Fremden Kind
Mitglieder unserer Familie bin ich ja auch stolz, Mutter, wie du weißt. Cecil ist nicht unbedingt mein Fall, aber mein Vater hat trotz all seiner – Eigenheiten – etwas Genialisches.«
»Auf jeden Fall ist er sehr klug«, sagte Mrs Jacobs mit leicht zerfurchter Stirn über ihre Tasche gebeugt. Paul stellte sich ein kleines Sammelsurium aus Brillenetuis und Papieren, Puder- und Pillendosen darin vor. Kurz hielt sie inne und sah zu ihm auf, ließ aber eine Hand zur Orientierung in der Tasche. »Jennys Großvater war auch ein wunderbarer Maler. Revel Ralph. Vielleicht haben Sie schon mal von ihm gehört. Nein? Nun ja, er war ganz anders als Mark Gibbons. Ich würde sagen, dekorativer.«
»Mark hat seine besten Jahre hinter sich, Granny«, sagte Jenny.
»Gut möglich, Liebes, schließlich ist er fast so alt wie ich.« Paul wusste natürlich, wie alt sie war, aber nicht, ob es ein Geheimnis war. »Dann ist Revel für dich wohl auch hoffnungslos veraltet.«
Jenny machte einen Schmollmund und lüpfte ihre Augenbrauen, als wollte sie sagen, dass sie ihre negativen Urteile sehr gut allein treffen könne. »Nein, mir gefallen die Sachen von meinem Großvater. Ich finde sie irgendwie – pikant . Besonders seine späten Sachen.« Die Selbstsicherheit, die aus ihren Äußerungen sprach, beeindruckte und amüsierte Paul. Sie hatte eine Denkerstirn beim Sprechen, als wäre sie bereits in Oxford.
»Lebt er … nicht mehr?«, fragte er.
»Er wurde im Krieg getötet«, sagte Mrs Keeping, schüttelte energisch den Kopf und drückte ihre Zigarette aus.
»Er war außerordentlich tapfer«, sagte Mrs Jacobs. »Zwei Panzer wurden unter ihm in die Luft gesprengt, und bei dem Versuch, einen dritten zu erreichen, traf ihn eine Granate.« Die nächste Zigarette in der einen, Feuerzeug in der anderen Hand, fuhr sie fort, ehe jemand etwas sagen konnte. »Er war ein Kriegsheld. Er hat posthum einen Orden verliehen bekommen.«
»Was ist eigentlich aus dem geworden, Granny?«, fragte Jenny, etwas sanftmütiger gestimmt.
»Ach, den habe ich«, sagte Mrs Jacobs, gierig an der Zigarette saugend, »den habe ich natürlich.« Paul war nicht klar, gegen wen sich ihre Entrüstung richtete. Sie sah ihn an, als hätten sie sich gegen die anderen verbündet. »Die Leute meinen immer, er sei flatterhaft und oberflächlich und was weiß ich nicht gewesen, dabei konnte er in Wahrheit sehr mutig sein.«
»Ja«, sagte Paul, »bestimmt …«, ein wenig hypnotisiert von ihr und bereits ein Bewunderer des Mannes, von dem er bis vor einer Minute noch nie etwas gehört hatte.
Am Tor zur Einfahrt drehte sich Paul noch einmal um und winkte mit der verbundenen Hand, doch Jenny, die man gebeten hatte, ihn hinauszubegleiten, war bereits verschwunden. Die kleinen Muskelkontraktionen der Heiterkeit und Höflichkeit waren dennoch beinahe unbewusst auf seinem Gesicht verblieben, während er beschwingt die Glebe Lane entlangschlenderte. Er lächelte bei dem Blick über die Hecke, dem Blick in die anderen Vorgärten, er lächelte dem entgegenkommenden Rover zu, dem Fahrer, der in die Abendsonne blinzelte und ihm das Gefühl gab, ein Eindringling zu sein, das heißt, jetzt vielleicht eher ein Flüchtender. Die Sonne wärmte ihm den Rücken. Vom Kirchturm zwischen den Bäumen schlug jetzt noch einmal die Viertelstunde – er sah auf seine Armbanduhr, 19 Uhr 15; die vergangenen zwanzig Minuten hatten eine gefühlte Stunde gedauert, und er wunderte sich, dass es nicht bereits 20 Uhr 15 war.
Hier war der Church Walk, hier der Marktplatz.
Eigentlich hatte er noch nie Spirituosen angerührt, und der zweite Gin Tonic, ein lustvoller Genuss wie der erste, hatte ihn in eine grinsende Euphorie versetzt, nur leicht getrübt durch Anflüge von Verwirrung und Sorge. Er hatte viel geredet und sich zwischendurch ermahnt, lieber zu schweigen, hatte Dinge erzählt, die er normalerweise für sich behielt, über seinen Vater, dessen Flugzeug abgeschossen worden war, über die Krankheit seiner Mutter und sogar über seine Heldentaten in der Schule, lauter Dinge, die ihn bestimmt kindisch und albern erscheinen ließen. Aber offenbar hatte es niemanden gestört. Was wohl Mr Keeping, der selbst kaum etwas gesagt hatte, von ihm hielt? Eigentlich war es hinterhältig von ihm, Paul erst betrunken zu machen und sich dann zurückzulehnen und ihm mit seinem nervtötenden Lächeln zuzuschauen. Morgen im Büro würde sicher eine sarkastische Bemerkung darüber fallen. Andererseits hatte er bei
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