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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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abgelegen, labyrinthisch, leicht bedrohlich, mit eigenem baumumsäumten Park, heute umgepflügt und in Spielfelder aufgeteilt. Niemand, so die weitverbreitete Ansicht, würde gerne in so einem Haus wohnen, doch als Lehranstalt war es geradezu ideal. Peter hatte angefangen, seine Geschichte zu erforschen. Vergangenes Jahr hatte er eine Petition zur Rettung der St Pancras Station unterzeichnet, und auch auf Corley hatte er sich in die farbigen Klinkersteine und schrillen neogotischen Details verliebt, die alle kultivierteren Vorstellungen von einem englischen Herrenhaus auf so vergnügliche Weise in frage stellten – obschon die Innenräume nach den Umbauten zwischen den Kriegen heute entzaubert wirkten, hell und harmlos. Nur die Kapelle, die Bibliothek und die große Haupttreppe aus Eiche mit den schildbewehrten, geflügelten Drachen auf den Treppenpfosten waren den ästhetischen Hygienemaßnahmen der Zwanzigerjahre entkommen. Die Bibliothek war als solche erhalten geblieben, und die Kapelle war ein echtes hochviktorianisches Kleinod, außerdem Stätte der größten Kuriosität der Schule, des weißen Marmorgrabs des Dichters Cecil Valance.
    Peter betrat das von der Sonne erwärmte Musikzimmer und riss als Erstes die Fenster auf; über der Fensterbank lag die angenehm kühle Morgenluft. Mit wenigen Tritten und Schüben hatte er die Stühle auf dem braunen Linoleumbelag in zwei Reihen angeordnet. Als einziger Schmuck im ganzen Raum hing über dem zugemauerten Kamin ein Öldruck von Johannes Brahms, »Zum Gedenken an N. E. Harding, 1938–53, überreicht von seiner Familie«. Manchmal stellte sich Peter die Familie vor, wie sie zusammengesessen und sich für dieses spezielle Geschenk entschieden hatte.
    Er stellte das Acorn-Songbook auf den Notenständer des Wandklaviers und ging rasch die Lieder für heute durch. Die meisten Jungen konnten keine Noten lesen, also hieß es, ihnen die Melodie in gnadenloser Wiederholung einzubläuen. Den Texten schenkten sie genauso wenig Beachtung wie denen von Kirchenliedern. Die Worte waren eine Gegebenheit: hochgestochen, altmodisch, und wurden mit einer kindlichen Mischung aus Respekt und völliger Gleichgültigkeit hingenommen. Jetzt schlug die Glocke, die ganze Schule hielt den Atem an und entspannte sich in einem leisen Geplapper und Getrampel, das von den unteren Stockwerken heraufstieg. Wieder erfasste ihn der vorübergehende und dennoch sofort unterdrückte leichte Überdruss. Er fing an, »Für Elise« zu spielen, und wartete darauf, dass der Lärm von unten mit dem Klatschen von Sandalen und einem Klopfen an der Tür Kontur gewann. Die Schüler sollten ihren Lehrer immer beim Spielen antreffen, und selbst wenn er längst »Herein!« gerufen hatte, klimperte er weiter und brachte sie jedes Mal hübsch in Verlegenheit, weil sie nicht wussten, ob sie sprechen durften oder nicht.
    Das Klavier stand im rechten Winkel zu den Stuhlreihen, sodass er die Jungen beim Spielen mit einem Blick über die linke Schulter im Visier hatte. Eines Tages würde er sie mit der Liszt-Sonate in Erstaunen versetzen, doch vorerst blieb er bei diesem bescheidenen Stückchen, das einige Jungen auch bei Mrs Keeping spielten; eigentlich entsprach sein Können viel mehr dem Niveau seiner Schüler, als er zugeben mochte. »Guten Morgen«, murmelte er und konzentrierte sich auf den zweiten Teil; ein, zwei Jungen antworteten. Jede Klasse hatte ihre eigene Aura. Die fünfte Klasse mochte er besonders für ihren Humor und Einfallsreichtum und weil klar war, dass sie auch ihn mochte. Nur manchmal musste der Humor gezügelt werden. Er stand auf und sah seine Schüler an, und sein Stirnrunzeln rief, während er die Reihen abschritt, in den aufmerksamen Gesichtern hier ein Leuchten, dort ein Zweifeln hervor. Jede Andeutung von Bevorzugung versagte er sich, auch wenn er sie in Dupont und Milsom 1 bereits aufflammen sah.
    »Nun, meine kleinen Singvögel«, sagte Peter, »ich hoffe, ihr habt Lust auf ordentlich Krach.«
    »Ja, Sir«, tönte es pflichtbewusst im Chor.
    »Ich habe euch eine Frage gestellt«, sagte Peter.
    »Ja, Sir!«, tönte es kräftiger und zerfloss in Kichern. Peter sah sich wie geistesabwesend im Raum um, tat so, als würde er erst jetzt die Knaben bemerken und zog leicht verstört die Augenbrauen hoch.
    »Entschuldigt bitte, … habt ihr gerade was gesagt?«
    »JA! SIR!«, brüllten sie, und das Gelächter über diesen grauenhaften alten Witz wurde durch eine spürbare Spannung gebremst. Die

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