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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Deckenleuchte bildete dazu nur einen schwachen Ausgleich. Couchgarnitur, Fri sierkommode, Kleiderschrank, Bett mit wattiertem Kopf ende – hier passte nichts zusammen, alles andere wirkte wie abgestellt, im Haus nicht erwünscht: der zerkratzte Lehnstuhl, die schmiedeeiserne Stehlampe, die Souveniraschenbecher, der Bettvorleger aus brauner Wolle, den Mr Marsh, vermutlich an einem Tiefpunkt seines Lebens, selbst geknüpft hatte. Paul hatte gerade einen Satz angefangen, über den Moment, als Peter Rowe die Bank betrat, da strich er aus einem abergläubischen Impuls heraus die wenigen Worte wieder aus und fuhr so oft mit dem Kugelschreiber darüber, bis die Stelle blank glänzte.
    Er legte das Tagebuch beiseite und tastete auf dem Kleiderschrank nach der letzten Ausgabe von Films and Filming , die er dort versteckt hatte. Auf dem Titelblatt war ein Standbild aus dem neuen Film Privilege mit Jean Shrimpton und Paul Jones abgedruckt. Die beiden lagen offenbar zusammen im Bett. Jean Shrimptons blasses Profil schwebte über Paul Jones, der die Augen geschlossen hatte, den Mund leicht geöffnet. Zuerst hatte Paul gedacht, sie schaute ihm nur beim Schlafen zu und sei von seinem Anblick so verzaubert, dass sie ihn nicht wecken wollte. Dann war er auf den Gedanken gekommen, mit einem komischen Kribbeln im Bauch, dass sie miteinander schliefen und der Popstar mit seinem geöffneten Mund nicht schnarchte, sondern vor Hingabe nach Luft rang. Aber ganz sicher konnte man sich nicht sein. Das Foto legte nahe, dass man seine nackte Schulter und Brust und noch einiges mehr zu sehen bekäme, wenn man ins Kino ging. Hier würde der Film natürlich nicht laufen, er müsste mit dem Bus nach Swindon oder Oxford fahren. In dem Spalt zwischen beiden Gesichtern war ein einzelner, rätselhafter Körperteil zu erkennen, möglicherweise Jeans rechter Arm, insektenhaft nach hinten gebogen, während sie über Paul kauerte, vielleicht aber auch Pauls seltsam verdrehter, linker Ellbogen. Jetzt bemerkte er zum ersten Mal, dass es auch sein linkes Handgelenk sein konnte, aus der Nähe betrachtet, die Hand versteckt in Jeans Haar. Paul Jones’ puttenhafter Hals sah auf der gräulich-weißen Großaufnahme fleischig und zernarbt aus. Außerdem hatte er keine Ohrläppchen, das war nun wirklich höchst seltsam, und wenn einem das erst mal aufgefallen war, war es nicht mehr zu übersehen. Paul Bryant war sich bei Paul Jones nicht ganz sicher. Seine Mutter hatte mal ganz offen für ihn geschwärmt, in Top of the Pops, aber gemeinsam mit der eigenen Mutter für einen Mann zu schwärmen verbot sich von selbst. Seine eigene Sehnsucht war bescheiden, er hätte Paul Jones nur gern mal geküsst, mehr nicht.
    Er saß aufrecht im Bett und las zum dritten oder vierten Mal die Kleinanzeigen. Sie wirkten wie eine sanfte Sinnestäuschung oder die Suchbilder in Zeitungen, auf denen sich zehn oder noch mehr Gegenstände verbargen: Bei den vielen verborgenen Einladungen konnte einem schwindlig werden. Systematisch ging er die Rubrik »Dienstleistungen« durch, »kultivierte junge Männer« boten Hilfe bei Hausarbeiten »in Privatwohnungen oder Häusern« an, auch »maskuline Männer für alles«, »jedes Angebot wird berücksichtigt«. Er war nicht auf der Suche nach besonderen Diensten, es beschäftigte ihn nur sehr, dass so viele angeboten wurden. Von Masseuren zum Beispiel. Ein Mr Young, »Stimulationstherapeut«, bot zwischen 10 Uhr 45 und 15 Uhr Hausbesuche an, ausschließlich in North-West London. Dieser Mr Young würde ihn ziemlich einschüchtern, dachte Paul, selbst wenn er sich innerhalb des genannten Zeitraums in der Gegend einfand. Dann arbeitete er sich durch die noch kleiner gedruckten An- und Verkaufsanzeigen, die sich alle ähnelten, sodass man schon mal eine aus den Augen verlieren – und dann wiederfinden konnte, wodurch sie magische Bedeutung erhielt. Hauptsächlich ging es um Zeitschriften und Filme. Häufig las man flehentliche Bitten: »Suche Szeneaufnahmen, Standfotos, Artikel, Zeitschriften, ALLES über Cliff Richard.« Ein anonymes »Atelier« bot »Körperkultur- und Glamourfilme« für »Studenten, Künstler und Kenner« an, jemand anders verkaufte »50-foot-Actionfilme«. Wie lang mochten die wohl sein, fragte sich Paul und stellte sich vor, die Bandspule sei in einem Vorführapparat eingespannt – viel Action passte auf so eine kurze Stecke nicht drauf, der Film wäre im Nu zu Ende. Er besaß ohnehin keinen Filmprojektor und konnte sich bei

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