Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
Vom Netzwerk:
nicht zu Ende, und Paul wusste nicht, ob er glücklich oder erleichtert sein sollte, als Corinna sich wieder ans Klavier setzte, Peter sich auf seinen Platz in der ersten Reihe zurückzog und Sue Jacobs wild entschlossen vortrat, um Bliss’ »Hängematte« zu singen. Es war merkwürdig, die Worte auswendig zu wissen und nun zu versuchen, ihnen entgegen der seiner Ansicht nach völlig sinnlosen Einmischung durch die Musik zu folgen. Die eigenartigen Dinge, die ein Sänger den Worten antat, machten es umso schwieriger: die Vokale, die zerdehnt von einem hohen Ton plötzlich zu anderen Vokalen wurden. Sich das Gedicht wie in die Luft geschrieben vorzustellen war allerdings auch eine Möglichkeit, Sue nicht ansehen zu müssen, ihre gebleckten Zähne und den stechenden Blick, der von einem zum anderen im Publikum wanderte. »Und jede Blume schläft im Garten weit, Unsterblich in der Stunde dieser Sterblichkeit.« Von Arthur Bliss wusste Paul nur, dass er Master of the Queen’s Music gewesen war; fraglich allerdings, ob Ihre Majestät Freude an dieser speziellen Darbringung gehabt hätte. Zum Schluss stand Mrs Jacobs auf, küsste die beiden und klatschte mit erhobenen Händen, um den Applaus neu zu entfachen. Anscheinend war sie gerührt, doch Paul meinte zu erkennen, welch ungeheure Anstrengung es sie kostete, angesichts der allgemeinen Forderung danach.
    Als die Leute aufstanden und sich unterhielten, fing er Peters Blick und seine heitere Miene auf und grinste zurück, wie um ihm mitzuteilen, wie großartig er gewesen sei. Was er ihm später tatsächlich sagen würde – er wusste es nicht, und er wich in die Küche aus, um sich ein Glas zu holen. Als er zurückkam und sich zu der Gruppe um Mrs Jacobs stellte, wagte er kaum, ihn anzusehen, halb wahnsinnig vor Nervosität und Verlangen und dem Gefühl einer unausweichlichen Ver pflichtung gegenüber dem, was in seiner Vorstellung als Nächs tes geschehen würde.
    Wenige Minuten später durchstreiften sie den Garten und stießen leicht aneinander, wenn einer dem anderen den Vortritt ließ zwischen den Tischen, auf denen noch immer Kerzen in Gläsern brannten; einige hatten angefangen zu flackern, und ein Schleier des Geheimnisvollen, ein verborgener Gleichklang lag über den Gästen, die wieder nach draußen gekommen waren und unterm Sternenhimmel tranken und plauderten. Kuchenstücke wurden herumgereicht, dazu Papierservietten. »Ich dachte schon, Sie wollten den ganzen Abend mit dem alten Mädchen reden«, sagte Peter.
    »Tut mir leid.« Paul streckte die Hand nach Peters Arm aus, ohne ihn zu berühren.
    »Also, wollen wir mal sehen – der Garten ist ja ziemlich groß.«
    »Oh, ja«, sagte Paul. »Weiter hinten ist ein Teil, den wir unbedingt auskundschaften sollten.« Noch nie war er so dreist oder so verängstigt gewesen.
    »Ihr Klavierstück hat uns sehr gefallen!«, sagte eine Frau, die auf dem Weg zurück ins Haus war.
    »Oh, vielen Dank …!« Ein Hauch von Prominenz umgab sie, der ihren kleinen Ausflug auffälliger und vielleicht ver dächtiger machte. Nun, abseits der Lichter, erschien ihm Peter vertrauter und zugleich fremder, eine Gestalt, die sich eher ertasten als erkennen ließ. Jemand hatte eine Glenn-Miller-Platte aufgelegt, und die Musik sickerte mit ihrem dürftigen Hauch von Romanze durch die Bäume. Sie kamen an die Trauerbuche. »Hmm, hier lieber nicht«, sagte Peter auf seine beruhigende und irgendwie bestimmte Art, als hätte er einen ziemlich genauen Plan im Kopf.
    »Ich finde diesen Teil des Gartens am reizvollsten«, hielt Paul das Spiel am Laufen und schritt vorsichtig ins Dunkel des Rosenspaliers, hinter dem sich der ungepflegtere Teil, Schuppen und Komposthaufen, befand. Auch er redete, als wüsste er genau, was er tat oder gleich tun würde. Eigentlich hätte er Peter längst an sich reißen müssen, doch die Dunkelheit hatte etwas, was sie so natürlich voneinander trennte, wie sie versprach, sie zusammenzubringen.
    Nur ungefähr sah er, wie Peter mit verwegener Ungeduld die Schuppentür aufriss, dann hörte er Bambusstöcke klappern, »Oh, Scheiße! Scheiße …«, der Schuppen als Sprengfalle. »Das ist die reinste Hölle da drin«, sagte Paul und lachte über seinen Scherz mehr, als er sich erklären konnte. Er war betrunken, und das hier war eine der köstlichen, irreversiblen Katastrophen der Trunkenheit. Peter bückte sich jetzt, stieß und zwängte die umgekippten Stöcke zurück in den Schuppen, bekam aber die Tür nicht mehr zu.

Weitere Kostenlose Bücher