Fremden Kind
stehen, ganz rosa vom Suff und sehr komisch in seinem Bemühen, nüchtern zu wirken. Gleich neben ihm saß Jenny mit einem ähnlich kritisch konzentrierten Stirnrunzeln, bedrängt von einem großen alten Mann mit einem Bauerngesicht und weißer Haarmähne, dessen lautes, schwermütiges Schnaufen sie höflich ignorierte. Als würde die Musik ihn forttragen, wandte Paul sich mit einem entrückten Lächeln ab, und sein Blick fiel auf Mr Keeping, der hinten im Raum stand, an die roten Samtvorhänge gelehnt, und der seine Frau ebenfalls mit einem angedeuteten Lächeln, seiner undurchdringlichen Mas ke, intensiv beobachtete. Sie stellte sich zur Schau, ihre Physis und Passion, und Paul wurde bewusst, dass er Mr Keeping ab jetzt mit anderen Augen sehen würde als bisher. Dann senkte sich sein Blick auf die Frau in der Reihe vor ihm, auf den Verschluss ihrer Halskette, das aus dem Kragen nach oben geklappte Etikett ihres Kostüms … Anne-Marie, Paris, London entzifferte er die auf dem Kopf stehende Schrift. Als die Frau bei einem besonders lauten Akkord mit dem Kopf zuckte, berührten ihre Haarspitzen seine Finger. Sie sah sich um, ihr entschuldigender Blick verschleierte einen Vorwurf. Etwas später flüsterte sie ihrem Mann etwas zu, der das Gesagte mit einem heftigen empörten Nicken quittierte. Für drei, vier Sekunden, die möglicherweise eine geschlagene ekstatische Minute lang waren, bekam Paul eine seltsame und intensive Ahnung vom Leben dieser ihm unbekannten Frau, das seins vermutlich nie wieder kreuzen würde, und das hypnotische Detail ihres abstehenden Etiketts zeigte ihm vieles, was ihr selbst gar nicht bewusst war.
Die Tür neben ihm stand offen, mit einem Keil fixiert, und gelegentlich hörte er Geschirrklappern oder eine unbedachte laute Stimme aus der Küche, wo die Frauen aus dem Bell den Abwasch erledigten. Auch die Haustür stand offen, und kühle Luft, in die sich schwacher Tannenduft mischte, strömte herein und zog wieder hinaus. Es folgte erneut der ruhigere Abschnitt, die Leitmelodie – er wagte es nicht, Peter anzuschauen –, untermalt von einem Bimmeln, ganz ungeniert, verstimmt und höchst unpassend, das Glöckchen an Rogers Halsband, der draußen am Rand der Einfahrt herumschnüffelte. Dann vernahm er Schritte auf dem Kies, die zögernd innehielten, einige unbefangene Begrüßungsworte an den Hund gerichtet, der ein paarmal verunsichert bellte. Aus irgendeinem Grund dachte Paul, es könnte ein Polizist sein oder vielleicht Sir Dudley Valance mit seiner Kriegsverletzung, von dem er mittlerweile beinahe wie besessen war. Ein Räuspern, ein leises Klopfen, einige Gäste sahen sich mit dem lebhaften Interesse, das ein Publikum an Unterbrechungen hat, um … Mit unterwürfiger Miene huschte Paul in den Hausflur.
»Ah, hallöchen – guten Abend …!« Ein Mann spähte durch die Haustür, im ersten Moment so in Anspruch genommen, dass er nicht daran dachte, die Stimme zu senken, und in seinem engen braunen Anzug unbeholfen wirkte. »Ich habe mich fürchterlich verspätet – aber ich wollte es auf keinen Fall versäumen.« Eine vornehme, silbrige Stimme und zwischen den Satzteilen – kein Stottern, sondern kleine Pausen. Paul trat hinaus auf die Türschwelle und schüttelte dem Mann fest die Hand, ohne ihn ausdrücklich zum Eintreten aufzufordern, wie er meinte. Sir Dudley war das auf keinen Fall. Sie nickten sich zu, als steckten sie in derselben Bredouille.
»Wir hören gerade … etwas Musik«, sagte Paul taktvoll, nun ebenfalls mit Verzögerung.
»Ah!« Der Mann war an die fünfzig, aber sein breites knochiges Gesicht hatte etwas Jungenhaftes, als er den Kopf zur Seite drehte und lauschte. Paul sah einzelne ungepflegte Haarbüschel, dicht und ergrauend, um eine sonnenverbrannte Platte herum. »Ah, ja, tatsächlich«, sagte er, »Sentas … Ballade«, schon immer ihr Lieblingsstück.« Sie hörten die Musik emphatischer und lauter werden, und Paul stellte sich vor, wie Mrs Keeping sich gänzlich verausgabte, doch auf einmal ertönte Beifall. Warum kam ihm nur niemand zu Hilfe, dachte er.
»Möchten Sie …?« Paul deutete in den Hausflur.
»Ja – danke.« Jetzt konnten sie normal miteinander reden. »Hallo, Barbara!«, sagte der Mann. Eine der Frauen kam aus der Küche.
»Hallo, Wilfrid«, sagte sie. »Sie haben Ihr Essen verpasst.«
»Das – macht nichts«, sagte der Mann in seiner mönchischen Einfachheit und dem Zögern in der Stimme.
»Wir wussten nicht, ob Sie kommen«, sagte
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