Fremden Kind
Barbara wieder mit dem seltsamen Mangel an Respekt. »Mrs K gibt gerade ein Konzert, seien Sie also bitte still.«
»Schon gut – schon gut«, sagte Wilfrid, etwas ungehalten über Barbaras Ton.
»Möchten Sie reingehen?«, sagte Paul. Er beobachtete den Mann, der sich die Leute im Raum ansah, zwei, drei drehten sich nach ihm um, während Mrs Keeping das nächste Stück ankündigte. Sein brauner Anzug musste früher mal jemand anders gehört haben, die drei Jackettknöpfe waren zu, Ärmel und Hosenbeine zu kurz, und in die engen Hosentaschen sperrige rechteckige Gegenstände gestopft. Paul fragte sich, ob die anderen Gäste ihn kannten, sich womöglich ein Skandal anbahnte, für den man ihm die Schuld geben würde.
»Spielt sie noch lange?«, fragte Wilfrid freundlich, aber so, als wäre er außer Hörweite. Noch mehr neugierige Blicke flogen in seine Richtung.
»Das weiß ich nicht …«, sagte Paul, von ihm abrückend.
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?«, sagte Barbara etwas weicher gestimmt. »Oder wollen Sie sich zu uns in die Küche setzen?«
»Ich glaube, vielleicht …« – Wilfrid blickte sie an und verzog den Mund. »Wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht.«
»Aber nicht doch.«
»Ich hatte eine Mitfahrgelegenheit bis Stanford, dann der Bus, den Rest bin ich zu Fuß gegangen.«
»Dann müssen Sie doch Hunger haben«, sagte Paul, den herablassenden Ton aufgreifend. Er hörte, wie Peter mit sei ner Oxford-Stimme etwas ankündigte und das Publikum zum Lachen brachte, und er merkte, dass etwas passiert war – die Stimme löste jetzt kleine Wellen der Aufregung und Angst aus, die ihn durchliefen und für das Geschehen um ihn herum fast blind machten. Die Musik fing an. Wilfrid folgte Barbara, drehte sich in der Tür aber noch mal um, ging zurück zum Gabentisch im Hausflur, holte ein in rotes Glanzpapier eingewickeltes Päckchen aus seiner Tasche und legte es zu dem Stapel ganz unten. Als er weg war, sah sich Paul das dazugehörige Schildchen an. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mummy. Alles Liebe, Wilfrid.«
Das kleine Rätsel sollte ihn nicht lange beschäftigen. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, um zuzuhören oder wenigstens um Peter beim Spielen zuzuschauen. Das musste der Mozart sein. Es hatte was Trotteliges, doch auch Eindrucksvolles, wie der große clevere Peter über diesem zierlichen, doch nervtötenden Musikstück gebeugt hockte, ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Die starken Hände, die eben noch unterm Tisch sein Knie gestreichelt hatten, hackten und hüpften nun in einer bemerkenswerten Darbietung bemühter Feierlichkeit auf dem unteren Ende der Tastatur herum. Mrs Keeping am oberen Ende hatte offenbar mehr Spaß am Spiel und degradierte Peter zu einem galanten, aber gefälligen Diener; ihre Miene und das Nicken ihres Kopfes schienen auf einmal wie unwillig erteilte Anweisungen oder schmallippige Bestätigungen, dass er entweder etwas falsch oder richtig gemacht hatte. Das Umblättern der Seiten geriet jedes Mal zum Ärgernis, wenn beide gleichzeitig spielten. Nach einem Moment fiel Paul auf, dass Peter die gesamte Pedalarbeit besorgte, worauf er anfing, sich für seine Beine genauso zu interessieren wie für seine Hände. Mrs Keepings Beine zuckten beim Spielen, und Peters gelegentliches Antippen der Pedale mit dem Zeh war wie eine höfische Version des Füßelns, das er eben mit ihm unterm Tisch aufgeführt hatte. Dieses Geheimnis rührte Paul, er bewunderte Peter und war eifersüchtig, dass er nicht selbst mit ihm Klavier spielen konnte. Zum Schluss applaudierte er laut und achtete darauf, dass er als Letzter klatschte, wie früher in der Schule.
Es folgte ein sehr sonderbares Stück, das nach Peters gemeinem Grinsen zu urteilen offenbar als Scherz gemeint war. Die Zeit nach dem Konzert, die bedeutenden Dinge, die sich dann ereignen würden, all das lastete so sehr auf Paul, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Peters Talent für peinliche Auftritte war ihm schon aufgefallen, und er hoffte nur, dass er jetzt nicht so weit ging, sich lächerlich zu machen. Doch dann auf einmal war alles vorbei, die beiden standen auf und verbeugten sich, und in den Applaus mischte sich Lachen, herzlich, aber auch verhalten, als verlangte das Publikum, auch in den Scherz eingeweiht zu werden. Peter ließ den Blick durch den Raum schweifen, er nickte, gluckste, schob die Zungenspitze vor, und sein selbstgefälliges Lachen schien Paul beinahe zu liebkosen.
Es war noch immer
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