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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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ersten Reihe, sah schmunzelnd auf seine Hände oder den Boden; Mrs Jacobs auf dem Ehrenplatz in der Mitte der Reihe nippte an ihrem Glas und blinzelte in vorwurfsvoller Heiterkeit zu ihrer Tochter hinauf, während die Überraschung ihren Lauf nahm. Paul lächelte eher beklommen, und wenn alle lachten, lachte er auch. »Weil unsere Mutter ja so schrecklich gern Musik hört«, sagte Mrs Keeping, »haben wir uns gedacht, dass wir sie besser damit bei Laune halten sollten.« Erneutes Lachen – Paul sah zu Mrs Jacobs, die sich in der allgemeinen Wertschätzung und der Witzelei sonnte, und eine Frau hinter ihm rief: »Liebe Daphne«, und auch das erntete einen Lacher. Mrs Keeping schlang ihren schwarzen Shawl fester um die Oberarme und drückte die Schultern nach hinten. »Fangen wir also mit ihrem Lieblingskomponisten an.«
    »Aha …!«, sagte Mrs Jacobs mit einem zustimmenden Lächeln, wenn auch durch die winzige Unsicherheit gefärbt, wer denn das wohl sei.
    »Chopin?«, sagte ein alter Herr zu der Frau neben Paul.
    »Das werden Sie schon noch merken!«, sagte Mrs Keeping. Sie nahm auf dem Klavierhocker Platz und schaute noch mal ins Publikum. »Für das Original reicht es leider nicht, es handelt sich hier um eine Liszt-Paraphrase.« Ein launiges ahnungsvolles Raunen ging durch den Raum. »Es ist sehr schwieri g ! « Mit einem stechenden Blick richtete sie die Notenblätter auf dem Ständer aus und legte los. Sie spielte wirklich gut – oder? –, das war Pauls erster Eindruck. Verschämt grinsend wandte er sich rasch zu den anderen um. War es Chopin? Er sah, wie sie überlegten, sich anguckten, die Stirn runzelten oder nickten, einige sich zur Seite beugten und einander etwas zuflüsterten. Ein geräuschloses Seufzen, eine Welle allgemeinen Wiedererkennens und der Erleichterung, die die Musik beinahe zur Nebensache machte, Hauptsache, sie hatten sie erkannt. Paul wollte sich nicht anmerken lassen, dass er sie nicht erkannt hatte. Noch nie hatte er jemanden ernsthaft und aus so großer Nähe Klavier spielen sehen, und er war wie hypnotisiert in seiner Verlegenheit, die sich durch den Umstand, dass er sie zu verbergen suchte, nur noch verschlimmerte. Zum einen war da der Lärm an sich, den er vage für den Lärm klassischer Musik hielt, eintönig und phrasenhaft, voller Gefühle, die kein Mensch je empfand, und zum anderen der Anblick von Mrs Keeping in Aktion, die mit ihren nackten Armen über die Tastatur herfiel, auf sie einstach, rauf und runter. Mrs Keeping war nicht sonderlich groß, aber ihre Anwesenheit allein war erdrückend. Ihre kleinen Hände, tapfer und putzig, spreizten sich, kullerten und wedelten über die Tasten. Sie schaukelte und hüpfte von einer Gesäßbacke auf die andere in ihrem steifen roten Kleid; und die schwarze Stola bibberte, verrutschte und glitt mit einem erschreckenden Eigenleben herab. Fesselnd, beinahe unerträglich, ihr Anblick im Profil, gepudert und gepanzert, von Zuckungen und heftigem Nicken erschüttert, wie Tics, die sie gerade noch unter Kontrolle hatte. Er starrte sie an, lächelte steif und bedeckte versonnen Mund und Kinn mit der Hand.
    Auch Mrs Jacobs wirkte befangen, aber auf zufriedene Art, den Kopf zur Seite geneigt. Ihre Reaktionen waren geradezu ein Teil der Vorstellung. Der sehr bewegte erste Abschnitt war zu Ende, nun setzte eine langsamere Melodie ein, sich gewiss, dass sie es war, auf die alle gewartet hatten, auch diejenigen, die sie zum ersten Mal hörten. Mrs Jacobs begrüßte sie, indem sie die rechte Hand hob und wieder herabsinken ließ und bedächtig den Kopf schüttelte. Paul dachte, dass sie wahrscheinlich sehr betrunken war, und er spürte das warmherzige Einverständnis mit ihr von jenem ersten Abend wieder erglühen; obwohl er ebenfalls sah, dass Trunkenheit für sie mit einer langen gefühlvollen Geschichte verbunden war, während sie für ihn eine verrückte Neuheit war. Aus einer der hinteren Reihen kam ein leises Summen, dann ein Kichern, nachdem jemand »Pst!« gezischt hatte. Dann setzte wieder die Melodie ein, und sein Blick glitt über die Köpfe des Publikums und suchte Peter, fand Peter, der sich zur Seite gedreht hatte und seinen Blick suchte. Der rasch steigende Druck in seinem Herzen und das Glühen in seinem Gesicht passten zur Musik wie ein Leitmotiv: Und in dem Moment, als sie sich wieder voneinander abwandten, lächelten sie.
    Danach schaute Paul sich beiläufig um, ob sie jemand beobachtet hatte; er sah Julian an der Wand gegenüber

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