Fremden Kind
telefonieren. Er suchte Deckung in der Lücke zwischen Garage und Schuppen, ging in die Hocke, kroch auf allen vieren, die Aktentasche zum Schutz vor das Gesicht haltend, durch den dichten, verstrüppten Farnwald unterhalb der Tannen und tauchte, verkratzt und zerzaust, im hinteren Teil des Gartens von Two Acres wieder auf.
Er blieb stehen und schaute sich erst mal um. Er kam sich betrogen vor, wie zum Narren gehalten, doch die Aufregung wirkte raffiniert, beharrlich auf seine Enttäuschung ein und überwand sie. Dabei gab es kaum etwas zu sehen. Der Verteidigungswall aus Koniferen beschrieb einen leichten Bogen, erstreckte sich auch entlang der Rückseite des Hauses und beraubte es damit jeglicher Aussicht auf die Bäume dahinter und darunter, die zum Park der Bentley Priory gehören mussten. Der umschlossene Raum war so gut wie tot und bereits ohne Sonne. Den kurzen Hang aus Grasbüscheln, abgestorbenen Disteln und Brennnesseln durchzog ein Trampelpfad, wie von einem Fuchs angelegt – Paul sah, dass so ein Tier hier ungestört leben konnte, das Haus war in seinem Verlan gen nach Ungestörtheit zum Untergang verurteilt. Von einem dringenden Bedürfnis überwältigt, territorial wie physisch, wandte er dem Haus den Rücken zu, stellte seine Aktentasche ab und pisste kurz und heftig in das hochgewachsene Gras.
Irgendwie konnte er das Haus nicht recht auf sich wirken lassen, aber Fotos konnte er machen, für später. Er trat an ein Fensterchen an der Längsseite und blickte in eine finstere Küche, direkt vor sich eine Spüle aus Stahl, weiter hinten eine Tür, die sich zu einem helleren Raum hin öffnete. Der kleine, in die Glasscheibe eingelassene Plastikventilator drehte sich ruckartig, als er dagegenblies. Sogleich verließ ihn das Gefühl, das Haus könnte noch bewohnt sein. Es war leer, deswegen gewissermaßen seins, und eigentlich konnte und sollte er hineingehen. Doch dann, als er einen Schritt zurücktrat, entdeckte er unter dem Dachvorsprung die vignettenförmige rot-weiße Box einer Alarmanlage, Albion Security, eine Herausforderung, der er sich nicht zu stellen gedachte. Sie sah neu aus, alarmbereit und unempfänglich für den Einspruch, den die Bücher in seiner Aktentasche erhoben, er recherchiere doch nur das Leben eines Dichters. Er ging um das Haus herum zur Vordereinfahrt, die nur ein schmaler Streifen war; der grässliche Zaun mit dem Teerölgeruch schirmte ihn von der Straße ab. Ein kurzer Pflasterweg führte zur Haustür, im Türrahmen, in Brusthöhe, ein länglicher Kasten mit drei kreisförmigen Aussparungen, aus einer ragte ein Stück Draht. Irgendwann, vor seiner letzten Degradierung, musste Two Acres schon mal aufgeteilt worden sein, vermutlich in drei Wohnungen – wie fast jedes Haus in London. Sechzig ungeklärte Jahre also, seit die Familie Sawle das Haus aufgegeben hatte. Paul fragte sich, wie die Umbauten wohl aussahen – neue Badezimmer, Brandschutztüren; sein Blick wanderte hinauf zu den schwarz schimmernden kleinen Fenstern im ersten Stock. Wer hatte Daphnes Zimmer bekommen; und was war aus dem Zimmer geworden, in dem Cecil geschlafen hatte? Ein Wohnzimmer oder noch eine Küche?
Zehn Minuten verbrachte er am Haus, nacheinander von jedem Fenster magisch angezogen, gebannt, aber ratlos. Jedes Mal hielt er Ausschau nach etwas zum Mitnehmen, klein genug, um es noch zu den Büchern in die Aktentasche zu stecken. Keinen Blumentopf, keinen Zweig, sondern etwas, was sich eindeutig schon vor dem Ersten Weltkrieg hier befunden haben musste. Über der Haustür hing schief ein verrostetes Hufeisen an einem Nagel und verschüttete all sein Glück; er kam leicht dran, aber wollte es nicht abnehmen; er hängte es gerade, doch nach einer Sekunde baumelte es wieder schief. Vor den Fenstern waren überwucherte Blumenbeete, solche, in denen Einbrecher Fußspuren hinterließen, und er beugte sich darüber. Die Augen mit der Hand abgeschirmt, starrte er in die dämmrigen Räume, deren einzigen Schmuck jetzt nur noch Steckdosen, dunkle Staublinien und hellere Rechtecke auf den Tapeten bildeten. Der größte Raum zum Garten hin, mit Verandatüren, musste das Wohnzimmer gewesen sein. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Cecil mit Daphne vor dem gemauerten Kamin flirtete. Ein abgenutzter fleckiger beigefarbener Teppich bedeckte einen Teil des Parkettbodens. Am hinteren Ende machte er unter einem riesigen Eichenbalken eine schummrige Nische aus und glaubte zu erkennen, dass sie einst vielleicht mal
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