Fremden Kind
noch zwanzig Jahre nach dem Krieg die traurigen Hoffnungen gut betuchter Hinterbliebener ausschlachtete. Mrs Leland Aubrey wurde wiederum von einem Geist namens Lara »kontrolliert«, einer dreihundertjährigen Inderin; wie man sieht, erfolgte die Kommunikation also keineswegs auf direktem Wege. Ausgerechnet diese Distanz, der weite Umweg, der unweigerlich an das beliebte Spiel Stille Post erinnert, sprach nach meiner Mutter für diese Glaubenslehre, die sie von ihrem Medium und dem Priester, den sie als höchste Autorität betrachtete, übernommen hatte. Gerade weil Mrs Aubrey nie auf Corley gewesen war, keinen Kontakt zu seinen Bewohnern hatte, weder die Bibliothek noch gar den Grundriss des Hauses kannte, galt sie als unbestechlich, als immun gegen sittenwidrige Angebote und unfähig zum Betrug. Ihre Distanz war Garant ihrer Redlichkeit. Es war eine dreiste Weiterentwicklung der Kunst der Bauernfängerei, dreist, aber auch subtil: War die Lehre erst mal absorbiert, war der Gläubige zu den wildesten und obskursten Formen der Selbsttäuschung bereit. Eine Nachricht von solch makelloser Provenienz musste zwangsläufig bedeutsam sein, und die zufälligen Wortschnipsel, die bei den Tests abfielen, wurden von meiner Mutter so eifrig zusammengekehrt und nach esoterischen Botschaften durchforstet wie früher die Eingeweide eines Federviehs von irgendeinem Wahrsager. Der Akt der Auslegung verlangte eine Kompetenz, die allein ihr zufiel oder einem ihrer Begleiter bei diesen Sitzungen; war es doch – für eine so verschlossene Frau wie meine Mutter – ein weiterer, besonders schöner Aspekt dieses Verfahrens, dass die eigentliche Nachricht dem Medium, das ihr lediglich mitteilte, wo sie zu finden sei, offensichtlich nicht bekannt war. Es war, als würde sie einen Brief ihres toten Sohnes öffnen, den Mrs Aubrey ihr zufällig zugestellt hatte.
Folgendes war passiert: Meine Mutter hatte von dem Priester in Croydon, der selbst einen Sohn im Krieg verloren hatte, einen Brief erhalten, einen echten diesmal, mit einer Penny-Halfpenny-Briefmarke darauf. Darin schrieb er ihr, während einer Sitzung mit Mrs Leland Aubrey, auf der er von seinem toten Jungen Hinweise zu einem Buchtest erhalten habe, habe Lara auch eine Botschaft überbracht, die offensichtlich von Cecil stammte und für seine Mutter, Lady Valance, bestimmt sei. Ob er den Test an sie weiterleiten dürfe? Mit dieser Anfrage rannte er offene Türen ein; und auf den Glauben, ein lang ersehntes Wunder sei geschehen, hatten das Medium und der Pfaffe zweifellos spekuliert. Meine Mutter hatte bereits ein gewisses Interesse an Spiritismus gezeigt und in dem Jahr nach Cecils Tod sogar schon einige Séancen im Haus von Lady Adeline Strange-Paget besucht – der Mutter meines besten Freundes Arthur, dessen jüngerer Bruder bei der Schlacht von Gallipoli ertrunken war. Die Sitzungen hatten Zweifel bei ihr hinterlassen, aber vielleicht auch eine Ahnung von bislang unerforschten Wegen. Das Medium bei diesem Ereignis war eine Bekannte von Mrs Aubrey gewesen, die später wegen des Vorwurfs der Erpressung in mehreren Fällen angeklagt worden war. Allerdings stellte sich auch heraus, dass der Sohn des Pfaffen im Royal-Berkshire-Regiment gedient hatte und in den Wochen vor der Somme-Offensive in Cecils Kompanie überstellt worden war. Er hatte Cecil nur um drei Tage überlebt. In den Briefen an die Familie hatte er von seiner Liebe und Bewunderung für meinen Bruder gesprochen. Nach Cecils Tod hatten viele Soldaten, die unter seinem Kommando gestanden hatten, an meine Eltern geschrieben; auch Eltern von Kameraden hatten Kondolenzbriefe geschickt, die Lobeshymnen aus den Feldpostbriefen ihrer mittlerweile ebenfalls gefallenen Söhne auf ihren Offizier enthielten. Der Pfarrer aus Croydon hatte sich seine Lobeshymne so lange aufgespart, bis er mehr Profit daraus schlagen konnte.
Den ersten Test machten meine Eltern allein, aber über seine Wiederholungen kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Im Allgemeinen liefen die Buchtests so ab, dass Mrs Aubrey sich in Trance versetzte, während deren Lara mit Cecil kommunizierte. Das Ergebnis wurde von dem Priester umgehend auf Papier festgehalten, da eine Trance die Fähigkeit des Mediums, selbst zur Feder zu greifen, naturgemäß einschränkte. Danach wurde die Nachricht an meine Mutter geschickt, die sofort den Weisungen folgte. Alle diese Nachrichten betrachtete sie als Fortsetzung ihrer schriftlichen Korrespondenz mit Cecil, bewahrte sie
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