Fremden Kind
für Frauen interessierte, was irritierenderweise eine noch intimere Basis zwischen ihnen schuf. Der Master klatschte in die Hände und sprach ein paar Worte, alle erhoben sich, und während der High Table hinausdefilierte, wurden die niederen Ränge zu Kaffee und Gebäck in einen anderen Raum gebeten, dessen Namen Paul nicht verstand. Heute Abend würde er Dudley wohl nicht mehr zu fassen kriegen. Doch dann, draußen im Hof, während Zigaretten angezündet wurden, neue Gruppen sich formierten und wieder auseinanderdrifteten, hielt Ruth ihn zurück und sagte: »Schleichen Sie sich doch einfach mit mir in den Common Room.«
»Wenn Sie meinen …«
»Ich möchte nicht, dass Sie etwas verpassen.«
Sie gingen wieder hinein, doch jetzt scheute Paul vor zielstrebigem Handeln zurück. Mit einem ersten raschen, schweifenden Blick über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg sah er, dass Linette von ihrem Gatten getrennt worden war und sich mit einer Gruppe Männer unterhielt, einer etwa in ihrem Alter, die beiden anderen etwas jünger als Paul. Er schloss sich einer anderen kleinen Schar um Jon Stallworthy an, von wo aus er, das Gespräch verständnisinnig kopfnickend begleitend, das ferne Geschehen beobachten konnte. Dudley saß am anderen Ende des Raums auf einem langen Sofa mit einigen Fellows und einer attraktiven Frau, die offenbar mit ihm flirtete. Seine Anziehungskraft war spürbar, selbst noch im hohen Alter, und für gewisse Gemüter spielte sicher auch die Zugehörigkeit zum Adel eine Rolle. Linette schien ohne ihn orientierungslos, eine einfache Engländerin über siebzig, die die meiste Zeit des Jahres im Ausland lebte. Sie verlangte den Männern einige Galanterie ab, die sich in schwungvollen Gesten, nervösem Lachen und stockend erzählten Witzchen entlud, möglicherweise um zu überspielen, dass sie sich mit ihr langweilten und nicht wussten, woran sie mit ihr waren. Wie in Trance sah sich Paul willenlos ein Glas Brandy entgegennehmen, den Raum durchqueren und sich zu der Gruppe um sie herum gesellen – er wusste nicht, was er sagen würde, es erschien irgendwie sinnlos, sogar pervers, doch als selbst auferlegte Mutprobe unausweichlich. Linette trug eine große Jettbrosche an ihrem grünen Jäckchen, eigentlich eine schwar ze Blume, die er fixierte, während sie redete. Ihr Gesicht, zurechtgemacht und fotogen, hatte aus der Nähe eine hypno tisierende Wirkung und zeigte sich davon überzeugt, dass Dudley Valance froh und stolz war, es seit einem halben Jahrhundert tagtäglich betrachten zu dürfen, gut aussehend wie sein eigenes und genauso voller Verachtung für die vorlaute moderne Welt. Irgendetwas über seine Arbeit würde sie wohl sagen müssen, doch Paul hatte den Eindruck, dass ihr Leben im Süden und die Leute, die sie trafen, mit Literatur eigentlich nichts zu tun hatten. Er stellte sich vor, wie sie in ihrem alten befestigten Haus saßen, ihre alten gepanschten Weine süffelten und sich mit anderen Exilengländern umgaben, die in Antequera lebten. Aber noch etwas anderes teilte sich ihm in dieser steifen goldbraunen Mähne und den langen schwarzen Wimpern mit, Paul spürte es instinktiv: Diese Frau war nicht in Dudleys Welt hineingeboren worden, auch wenn sie jetzt deren versiegelte Schutzhülle trug. Es schien so, als hätten die anderen nur auf Paul gewartet, um nach einer Anstandsminute, diversen gemurmelten Entschuldigungen und höflichem Kopfnicken in alle Richtungen verschwinden und die beiden mit sich allein lassen zu können. »Ich muss unbedingt nach meinem Mann sehen«, sagte sie und schaute an Paul vorbei, ohne dass ihr huldvolles Lächeln gleich ganz erstarb. Er hatte das Gefühl, dass sich sofort alles ändern würde, falls er jetzt sagte, wer er sei.
»Ich bin schon sehr gespannt auf den Vortrag Ihres Mannes morgen, Lady Valance«, sagte er.
»Ja, ich weiß«, sagte sie. Beinahe hätte er gelacht, erkannte aber noch rechtzeitig, dass es nur eine allgemeine Floskel der Zustimmung war. Erst was sie dann sagte, meinte sie auch so: »Damit haben Sie alle einen großen Coup gelandet, dass er hergekommen ist.«
»Ja, ich glaube, das denkt wohl jeder hier«, sagte Paul und fuhr rasch fort: »Ich hoffe, dass er uns auch etwas über seinen Bruder erzählen wird.«
Linettes Kopf zuckte leicht, als hätte sie mal flüchtig davon gehört, dass ihr Mann auch einen Bruder hatte. »Ach, du lieber Gott, nein«, sagte sie, schüttelte jetzt den Kopf. »Nein, nein – er wird über seine eigene
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