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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Fahrt zu schätzen und hatte auf der hellen, dünn besiedelten Strecke, vorbei an Farmen und entlang dem sanften Auf und Ab der Landschaft, das naive Gefühl, das wichtige Interview mit Daphne Jacobs würde so die ganze Zeit über auf magische Weise hinausgezögert, obwohl doch mit jeder Verlangsamung und jedem Halt (Stroud, etwas später Stonehouse) das Ende der Strecke unausweichlich näher rückte. Natürlich wollte er nach Olga kommen, so der merkwürdige Name von Daphnes Haus, gleichzeitig aber den ganzen Tag von diesem freundlichen, kaum besetzten Zug hin und her geschaukelt werden. Er konn te sich nicht einmal dazu durchringen, sich vorzubereiten, dabei hatte er eine Reihe von Fragen, einen ganzen Fragenkatalog, den er mit ihr abarbeiten wollte, bis sie Licht ins Dunkel bringen würde, doch seine Aktentasche auf dem Nachbarsitz, voller Bücher, die Quellen mit Lesezeichen versehen, blieb unberührt.
    Kurz hinter Stonehouse wand sich der Zug über eine lange Serpentine den Westhang der Cotswolds hinunter in eine schier grenzenlose Ebene, halb verborgen im trüben Sonnenlicht. In diese Richtung war Paul noch nie so weit vorgestoßen. Das Gefühl, eine gänzlich unbekannte Region seiner eigenen Heimatinsel zu betreten, war traumhaft, aber auch verstörend. Wenige Minuten später glitten sie in recht hohem Tempo in den Bahnhof von Gloucester, und Menschenknäuel auf den Bahnsteigen, Wanderer, Soldaten, rückten näher und zogen vorbei, ihre Blicke bang oder drohend auf den abbremsenden Zug gerichtet. Aber vor Worcester kam ja erst noch Cheltenham.
    Kurz darauf musste er allerdings seine Sachen wegräumen und Platz für eine Frau mit zwei Kindern machen; die Frau, ihr Gesicht besorgt, angespannt, nörgelte geistesabwesend an ihnen herum, und als der Zug wieder anrollte, war für Paul die ganze Romantik der in London angetretenen Reise, von der die anderen nichts ahnten, für immer dahin, und die Phase der Kompromisse und erzwungenen Gemeinschaft hatte begonnen. Die Aktentasche ließ er auf dem Tisch stehen, sodass dem Jungen wenig Platz für seine Malbücher blieb. Seine Abneigung gegen Kinder, die in vielerlei Hinsicht Begabung zeigten, ihn in Verlegenheit zu bringen, bündelte sich in der mürrischen Lektüre von Daphnes Buch Die kurze Galerie, das er ihnen abwehrend vors Gesicht hielt. Die Tatsache, dass er gleich ein Interview von größter Bedeutung für sein eigenes Buch und damit für sein zukünftiges Leben führen würde, bedrückte und hemmte ihn wie der Ausbruch einer für seine Mitmenschen unsichtbaren Krankheit. Wenn es stimmte, was George über seine Schwester gesagt hatte, dann würden Pauls Gespräche mit Daphne, heute und morgen, zwangsläufig zu einem Kammerspiel der besonderen Art werden, bei dem er so tun musste, nichts von dem zu wissen, was er sich am meisten von ihr zu erfahren erhoffte.
    Zur Einstimmung las er noch einmal im ersten Kapitel ihr »Porträt« von Cecil:
    An jenem milden Juniabend, an dem ich ihn das letzte Mal sehen sollte, führte mich Cecil ins Jenner’s aus, zu einem kargen Mahl, das einem liebestrunkenen Mädchen wie der perfekte Liebesschmaus erschien. Erbsensuppe, Hähnchenkeule und Erdbeerpudding, daran erinnere ich mich noch, aber ich glaube, keiner von uns beiden achtete auf das Essen. Uns kam es nur darauf an, zusammen zu sein, unter dem Schutz und Schirm unserer eigenen starken Gefühle, fernab vom Lärm des Krieges. Als wir fertig waren, spazierten wir eine Stunde durch die Straßen bis zur Embankment und sahen dort dem über den breiten behäbigen Fluss entschwindenden Licht hinterher. Am nächsten Tag sollte Cecil sich wieder nach Frankeich einschiffen, für den mächtigen Vorstoß, der geplant war. Er fragte mich damals nicht – erst in seinem letzten Brief wenige Tage später –, ob ich ihn heiraten wolle, aber die Luft schien aufgeladen mit den ganz großen Fragen. Unser Gespräch aber drehte sich um einfache und schöne Dinge. Er begleitete mich zum Taxi, das mich zum Zug nach Marylebone bringen sollte, und dann sah ich C zum letzten Mal: Er stand vor den großen schwarzen Säulen von St Martin-in-the-Fields, winkte mit seiner Mütze und wendete sich dann abrupt ab, einer Zukunft entgegen, die wir beide mit Spannung und Grauen erwarteten.
    Vielleicht spiegelte es ja nur seine eigene Wahrnehmung wider, doch Paul glaubte nicht, dass man sich nach vier Jahren, geschweige denn vierundsechzig, noch an alle Gänge eines Menüs erinnern konnte; wohingegen man sich

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