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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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immer (aber auch das spiegelte vielleicht nur seine eigene, ziemlich beschränkte Erfahrung wider) daran erinnern konnte, ob man Sex gehabt hatte. Das bedenklich Klischeehafte und Unwirkliche der ganzen Szene wurde durch die Hähnchenkeule und den Erdbeerpudding nur noch unterstrichen, verschleierten sie doch auf eine Weise, die Paul gedanklich lieber nicht vertiefen wollte, die schlichte Wahrheit, dass die beiden die Nacht in der Wohnung der Valances in Marylebone verbracht hatten – sogar die Nennung des Stationsnamens war eine verschlüsselte Botschaft. Und was, wenn man schon mal dabei war, sollte man von dem »mächtigen Vorstoß« halten, auf den Cecil sich vorbereitete?
    Nervös auf den Lippen kauend, sah sich Paul Daphnes Foto auf der hinteren Umschlagklappe an. Es war eine Dreiviertelaufnahme von ihr in einem schlichten schwarzen Anzug und weißer Bluse, mit einfacher Perlenkette, angedeutetem Lächeln und insgesamt charmanter Ausstrahlung, die möglichweise davon herrührte, dass sie ihre Brille nicht aufhatte. Unmittelbar hinter ihr war ein Torbogen, in dem etwas undeutlich eine große Eingangshalle und eine Treppe erkennbar waren. Aus der Nähe betrachtet, sah man, dass ihr Gesicht etwas unscharf aufgenommen worden war, um die Augen und unterm Kinn silbrig weichgezeichnet. Der Fotograf hatte ihr fünfzehn bis zwanzig Jahre wegretuschiert. Das Ganze vermittelte den Eindruck einer attraktiven Frau in beinahe heiratsfähigem Alter und aus vermögenden Verhältnissen, die im Hintergrund nur angedeutet zu werden brauchten. Mit der Gestalt, die Paul in London auf der Straße aufgelesen hatte, ließ sie sich nur schwer in Einklang bringen. Dennoch, die Andeutung, dass diese andere Person existierte, war eigentlich unerträglich.
    In Worcester war er plötzlich froh, dass er nicht mehr sitzen musste, und stellte sich für ein Taxi an, dem ersten seit der gemeinsamen Fahrt mit Daphne im vergangenen November: Cathedral Cars. Er schlug gegenüber dem Fahrer einen unbefangen lockeren Ton an, während die grünen flackernden Ziffern auf dem Taxameter den Betrag sprunghaft in die Höhe trieben. Auf der Rückfahrt würde er die kleinen Landstraßen wohl eher genießen können, jetzt schaute er zwischen die Scheunen und Hecken hindurch auf die Szenerie, wie er sie sich für das Haus Olga ausgemalt hatte. Sie fuhren in Staunton St Giles ein, vorbei am Torhaus eines größeren Anwesens, dann durch eine hässliche Sozialsiedlung; ein Kriegerdenkmal, dahinter eine Kirche, ein Dorfladen, Post, Pub, der Black Bear, wo er am liebsten erst noch eingekehrt wäre, doch es war kurz vor Feierabend. »Wissen Sie, wo Olga ist?«, fragte Paul den Fahrer.
    »Aber ja«, sagte er, als wäre Olga eine lokale Berühmtheit. Ein hübsches Steinhaus zog vorbei, die Old Vicarage, eine Zeile alter Cottages, die selbstgefälliger wirkte als der Rest des Ortes, ein hübsches Plätzchen, um seinen Lebensabend zu verbringen. Das Taxi fuhr langsamer, bog in eine Seitenstraße ein und hielt unerwartet vor dem Tor zu einem heruntergekommenen Bungalow. »Macht genau zwölf Pfund«, sagte der Fahrer.
    Paul wartete, bis das Taxi um die Ecke gebogen war, ging dann ein paar Schritte die Straße entlang und machte über das niedrige Gartenmäuerchen hinweg vier, fünf Fotos von dem Bungalow, eine dokumentarische Pflicht, die ihm für kurze Zeit die Verlegenheit über den bedrückenden Zustand des Ortes nahm. Er ging zurück und verstaute die Kamera in seiner Aktentasche, für später, wenn er herausgefunden hatte, ob Daphne bereit war, sich fotografieren zu lassen. Es gab Menschen, die nach der intimen Situation eines persönlichen Interviews die Plumpheit eines Fotos als unstimmig und aufdringlich empfanden.
    Der Name OLGA war aus Schmiedeeisen und in das ebenfalls schmiedeeiserne Tor eingearbeitet. Paul trat ein, schritt über den verkrauteten Kiesweg und sah sich um, den ungepflegten Garten, hohe grüne Grasbüschel in der Dachrinne, eine abgestorbene Kletterrose, die traurig über der Veranda hing, in der Einfahrt ein alter Renault 12 mit rostender Beule am Kotflügel und grünem Moosbewuchs entlang der Fensterdichtung. Vom Rasen waren zwei, drei Streifen gemäht worden, vor einer Woche vielleicht, nach getaner Arbeit der Rasenmäher einfach stehen gelassen. Auf den Blumenbeeten faulten die Blätter des letzten Jahres. All das steigerte seine Bedenken, was er vorfinden würde, wenn er erst mal das Haus betreten hatte. Er drückte die Klingel, ein

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