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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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ihn vor beinahe 70 Jahren auf diese Weise berührt haben musste und ich mir GFS ’ Verhalten selbst zuzuschreiben hatte, weil ich diese Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte. Und noch etwas: Es war völlig egal, es machte nichts, denn schon sehr bald würde ich diesen von Bücherregalen gesäumten Raum und somit auch George verlassen. Selbst das Haus würde sich zurückverwandeln in das, was ich mir vorher für die Sawles ausgemalt hatte, ein echtes Tudor-Haus voller historischer Artefakte. Mir fiel wieder ein, wie penibel ich als ungefähr zwölfjähriger Schüler die Namen George und Madeleine Sawle auf der Titelseite ihres Buches mit Bleistift ausgeschmückt hatte. Jetzt dachte ich für einen Moment, er würde mich küssen, und ich fragte mich, wie ich reagieren würde – ich wünschte es mir fast –, doch er sah zu Boden, und plötzlich hatte ich den Gedanken: Ja, diese Geschichte werde ich aufschreiben. Sehr freundlich fuhr ich fort: »Was ist mit all den Briefen, die C Ihnen geschrieben hat? Sie schreiben, sie seien verloren gegangen.« GFS : »Ja, ich konnte schlecht sagen, was wirklich passiert war. Meine Mutter hat sie vernichtet, sie hat sie fast alle verbrannt. Übrigens …«, seine Hand krallte sich noch immer in meine linke Pobacke, doch jetzt eher als Stütze, nicht aus Vergnügen, »erwähnen Sie das lieber nicht gegenüber meiner Frau.« Es war nicht ganz klar, worauf sich »das« bezog. »In Ordnung«, sagte ich, und er ließ los. GFS : »Sie waren ein großer Verlust, ein Verlust für die Literatur – obwohl ziemlich haarsträubend, jedenfalls einige!«
    Kaum hatten wir uns wieder hingesetzt, kam MS herein und sagte, sie werde jetzt ein Minicab bestellen. Wir gingen hinaus in die Diele. MS bestand darauf, das Taxi persönlich zu bestellen: Lesebrille, Nummer aus einem alten Adressbuch gefischt, gereizter Ton, als sie die Zentrale erreichte. Sie blickte beim Sprechen stirnrunzelnd in den Garderobenspiegel, war sichtlich zufrieden über die praktische Art, mit der sie die Person behandelte, die sie ständig missverstand. »Zwanzig Minuten!«, sagte sie, wir hatten also noch ein wenig Zeit zu überbrücken. »Ich hoffe, Sie können einordnen, was mein Mann Ihnen erzählt hat«, sagte sie. Ich dachte nur, was für eine furchtbare Lehrerin sie gewesen sein musste, aber sagte natürlich, ja, das hoffte ich auch. »Eigentlich hätte ich Sie gar nicht zu ihm lassen dürfen. Er ist sehr verwirrt.« Ich sagte, er wisse wahrscheinlich mehr über C als irgendein anderer lebender Mensch. MS : »Ich muss Sie leider fragen, ob er Ihnen irgendetwas mitgegeben hat, irgendwelche Dokumente oder anderes?« Ich sagte, ich hätte nichts mitgenommen, außer meinen Notizen, aber er habe versprochen, mir einige Fotos für das Buch auszuleihen. Sie sah mich unverwandt an, damit kann ich umgehen; dann fiel ihr Blick auf meine Aktentasche, doch im selben Moment ging die Tür zum Arbeitszimmer auf, und GFS kam heraus. »Oh, hallo!«, sagte er und sah mich sehr interessiert an. »Paul wollte gerade gehen«, sagte MS (zum ersten Mal wurde sie persönlicher, redete mich mit Vornamen an). »Ja, ja …« Er hat ein ziemlich raffiniertes Lächeln, um sein schlechtes Kurzzeitgedächtnis zu überspielen, und einen geradezu langmütigen Ton ihr gegenüber. MS : »Hast du dich gut unterhalten, George?« Und GFS sagte: »Oh, ja, sehr gut, meine Liebe, sehr gut« – mit einem Blick, der ein geschickt getarnter Vorstoß sein konnte, um herauszufinden, wer ich war und was ich wollte, oder ein spitzbübischer, um mich im Geiste noch mal zu begrapschen. MS : »Und worüber habt ihr euch unterhalten? Daran wirst du dich sicher nicht mehr erinnern, oder?« GFS : »Oh, du wärst erstaunt.« Er schlug einen kleinen Gang durch den Garten vor, den MS genehmigte, allerdings war ich nach dem Vorfall in seinem Zimmer etwas skeptisch. Doch meine höfliche Heuchelei, es sei nichts vorgefallen, erwies sich dadurch, dass er das Vorgefallene komplett vergessen hatte, rasch als unnötig. »Guckt euch die Kaulquappen an, George«, sagte sie. Was wir pflichtbewusst taten und wobei uns MS vom Fenster aus die ganze Zeit beobachtete. »Zappelnde kleine Lümmel«, nannte GFS sie.

8
    E rst kam Didcot, dann Swindon, mehr oder weniger vertraute Außenbezirke, die im Vorbeigleiten wie von fern an sein Zugehörigkeitsgefühl appellierten, das kurzzeitig das drängende Pflichtgefühl gegenüber seiner Mission in Worcester Shrub Hill ablöste. Er wusste die lange

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