Fremden Kind
lächelten, und sagte dann so leichthin sie konnte: »Jetzt spann mich nicht auf die Folter, George. Zeig schon her!« Natürlich neckte er sie nur, wie Tausende Male zuvor, aber diesmal war es mehr als das, und sie sah mit Verbitterung, dass George einfach nicht aus seiner Haut konnte.
»Entschuldigung, altes Mädchen«, sagte er, lehnte sich zurück und legte das Album auf den Tisch.
»Vielen Dank auch!«, sagte Daphne.
»Wenn du dich jetzt sehen könntest«, sagte George.
Sie schob ihren Teller beiseite. »Würden Sie das Geschirr bitte abräumen«, sagte sie zu dem Hausmädchen, das sich betont langsam an die Arbeit machte und dabei auf die schwarzen Säulen aus Cecils Handschrift schielte, als bestätigten sie ihr nur den zweifelhaften Eindruck, den Cecil bei ihr hinterlassen hatte. »Vielen Dank«, sagte Daphne erneut scharf. Sie legte die Stirn in Falten und wurde rot, unfähig, auch nur ein einziges Wort in dem Gedicht zu erfassen. Sie musste unbedingt sofort herausfinden, was George damit gemeint hatte, dass sie sich geschmeichelt fühlen dürfe. War das die unerwartete, ungeschickte Überbringung der Nachricht? Wohl nicht, sonst hätte George sich noch ausführlicher darüber ausgelassen. Je angestrengter sie las, desto weniger verstand sie. Es hieß einfach nur »Two Acres«, und es ging über gut fünf Seiten, beidseitig beschrieben – sie blätterte vor und zurück.
»Formal ist es sehr einfach aufgebaut«, sagte George. »Für Cecils Geschmack.«
»Ja, sehr«, sagte Daphne.
»Regelmäßige tetrametrische Reimpaare.«
»Das wäre dann alles«, sagte Daphne und wartete, bis Veronica und Jonah gegangen waren. Sie konnten wirklich lästig sein. Daphne blätterte erst noch weiter zurück, bis zum Reverend Barstow und seinen akademischen Schnörkeln, »B. A. Dunelm«; dann wieder vor zu Cecil, der mit seinem el lenlangen Eintrag alle Poesiealbumregeln gebrochen hatte; die anderen Einträge wirkten dagegen wie dürftige Pflichtübungen. Es war anmaßend, und sie wusste nicht, ob sie es ihm übelnehmen oder es bewundern sollte. Seine Handschrift wurde mit abfallender Linie kleiner und gehetzter. Die letzte Zeile auf der ersten Seite strebte am Ende aufwärts, damit sie noch auf das Blatt passte. »Sonnenherold«, las sie, eindeutig ein lyrisches Wort, auch wenn sie die genaue Bedeutung nicht verstand.
»Das wird er vermutlich irgendwo veröffentlichen«, sagte George. »In der Westminster Review oder so.«
»Glaubst du?«, sagte Daphne so ruhig wie möglich, doch mit dem plötzlich nachdrücklichen Gefühl, dass das Gedicht schließlich ihr gehörte. Cecil hatte es nicht zufällig hier geschrieben, in ihr Buch. Sie versuchte noch immer herauszulesen, ob auch Dinge über sie persönlich drinstanden oder ob es nur um das Haus ging – und den Garten.
Die Brennnesseln dort an der Wand
Des Teufels Spielzeug auch genannt
Das bezog sich auf ein Gespräch mit ihm, jetzt in reine Dich tung gegossen. Ihr Vater hatte immer Teufelsspielzeug zu Brennnesseln gesagt, so nannte man sie in Devon. Sie war hingerissen, gleichzeitig leicht verwirrt, dass sie der Entstehung eines Gedichtes beigewohnt hatte, und noch über etwas anderes, Magischeres, als sähe man sich auf einer Fotografie. Was wurde noch offenbart?
Das Buch, das unterm Baum noch liegt,
Der Wind es blätternd überfliegt,
Das Gehölze, wo die Lärchenzweige
Im Kuss sich zueinander neigen
Und Liebende in ihrem Schatten
Sich küssen und ihr Geheimnis sich verraten
Wieder die exakt versetzt geordnete und dann atemberaubende Vermischung von Wörtern, Bildern und Tatsachen. Sie musste es unbedingt irgendwo allein lesen, in aller Abgeschiedenheit. »Ich glaube, der einzig passende Ort hierfür ist der Garten«, sagte sie und stand auf, wobei ihr plötzlich leicht schwindlig wurde. Im selben Moment erschien ihre Mutter in der Tür, mit ihrem aufgedunsenen Morgengesicht und ihrer strahlenden Morgenlaune, mehr noch, sie war aufgekratzt, hinter ihrem Lächeln lauerte etwas anderes. Es musste sich herumgesprochen haben; neben ihr stand verdruckst Veronica, die Informantin.
»Mein Gott, Kindchen!«, sagte ihre Mutter und sah Daphne seltsam und ungeduldig an. »So eine Aufregung.«
»Wenn ich es zu Ende gelesen habe, kann es sich jeder an gucken«, sagte Daphne. »Hier scheinen alle zu vergessen, dass das Album mir gehört.«
»Selbstverständlich, meine Liebe«, sagte ihre Mutter, ging um den Tisch herum und öffnete ein Fenster, um zu demonstrieren,
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