Fremden Kind
dass sie Dringenderes zu tun hatte. »Offenbar hast du durchaus Eindruck gemacht … auf ihn.« Aus irgendeinem grausamen Feingefühl heraus vermied sie Cecils Namen. Sie bedachte ihre Tochter mit einem spöttischen Blick, aus dem etwas Neues sprach – als wappnete sie sich für eine willkommene mütterliche Pflicht.
»Ich bitte dich, Mutter, er war nur knapp vier Tage hier«, sagte George beinahe beleidigt. »Cecil hat in seiner gewohnt großzügigen Art lediglich ein Gedicht über unser Haus geschrieben, als Dank für die Einladung, mehr nicht.«
»Ich weiß, mein Lieber«, sagte ihre Mutter etwas pikiert über ihre beiden empfindlichen Kinder. »Zu Jonah war er auch sehr großzügig.«
George stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, wie jemand, der etwas Dezidiertes, aber Diffiziles sagen wollte. »Das Gedicht hat überhaupt nichts mit Daphne zu tun.«
»Ach nein?«, wehrte sich Daphne kopfschüttelnd. Doch. Es stand ja da, sie hatte es sofort gesehen, der Kuss der Liebenden im Schatten, und wie sie sich ihre Geheimnisse erzählten, aber das konnte sie den beiden schlecht offenbaren. »Soll es mir jetzt noch leidtun, dass er dir nicht auch ein Gedicht geschrieben hat?«
Georges mitleidiger Blick heftete sich an die Kirschbäume draußen. »Er hat tatsächlich schon ein Gedicht für mich geschrieben.«
»Oh, George, das hast du mir ja gar nicht erzählt«, sagte seine Mutter. »Jetzt kürzlich erst?«
»Nein, nein, irgendwann im letzten Semester, aber das spielt keine Rolle.«
»So was!«, behielt ihre Mutter den Ton fassungsloser Verwunderung bei. »Ein ziemlicher Wirbel um ein Gedicht.«
»Kein Wirbel, Darling«, erwiderte George, jetzt heiterer und nachsichtiger.
»Es ist aber doch reizend, dass überhaupt jemand ein Gedicht für dich schreibt, meiner Ansicht nach.«
»Ganz meine Meinung!«, sagte Daphne, die das Gefühl beschlich, dass alles verdorben wurde.
»Allmählich tut es mir fast leid, dass ich es erwähnt habe. Cecils Besuch muss nicht in diesem kindischen Gezänk enden.«
»Dann lies es doch, wenn du unbedingt willst!«, sagte Daphne, spitzte die Lippen, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, und blätterte in dem Büchlein, bis sie die richtige Seite gefunden hatte, und reichte es ihr. Ihre Mutter sah sie streng an, und nach einem kurzen Zögern nahm sie es behutsam entgegen.
»Vielen Dank. Wenn mir das Mädchen jetzt noch meine Brille holen könnte.« Veronica lief und kam zurück, und Freda Sawle ließ sich am Esstisch nieder und widmete sich mit einer fragenden, aber aufgeschlossenen Miene dem Gedicht, das man über ihr Haus geschrieben hatte.
2. Teil
Rausch
Den Eltern ruft der Mann
Den Abschiedsgruß nun zu –
Und Wilhelm Tell –
Und auch Frau Kuh
Edith Sitwell, »Jodelling Song«
1
V on ihrem Platz am Fenster des Frühstückszimmers aus konnte man meinen, die beiden eilten aufeinander zu. Über der Hecke am Rand des französischen Gartens bewegte sich ruckartig, im Takt eines Hinkenden, ungeduldig der Kopf eines Mannes entlang. »Rubbish!«, rief der Mann. »Rubbish!« Während sich von rechts, zwischen den blassgrünen Rosskastanien des Parks, ein cremefarbenes Auto näherte, in dessen Windschutzscheibe die Sonne aufblitzte.
»L«, schrieb sie und zögerte, ohne die Spitze ihres Stiftes vom Papier abzusetzen. Liebling? Nein. Lieber? Schon eher. Erneute Pause, die in einen Tintenklecks auszulaufen drohte. Schließlich ergänzte sie »Liebster Revel«. Die Kurswerte von Menschen stiegen und fielen rasant, jedenfalls in ihren Kreisen, erstaunlichen persönlichen Annäherungen folgten ebenso abrupte Abkühlungen. Revel dagegen war ein Freund der Familie, der Superlativ also durchaus angebracht. »Schrecklich, das mit David«, fuhr sie fort, »es tut mir so leid für Dich«. Eigentlich brauchte man noch einen Kurswert unterhalb von »Lieber«, denn häufig hatte man für die in der ersten Briefzeile herzlich umarmte Person in Wirklichkeit nicht das Geringste übrig. »Unzuverlässige Jessica« oder »Abscheu licher Mr Carlton-Brown«.
Sie hörte den Wagen draußen vorfahren, das prompte Keifen der Klingel, Schritte, Stimmen. »Ist Lady Valance da?« – »Ich glaube, sie hält sich gerade im Frühstückszimmer auf, Madam. Soll ich …?« – »Oh, ich will sie nicht stören.« – »Ich kann ihr Bescheid sagen.« Wilkes gab ihr eine einmalige Gelegenheit, das zu tun, was sich gehört hätte. »Nein, machen Sie keine Umstände. Ich gehe gleich durch ins
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