Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
Vom Netzwerk:
dreizehn Jahren empfunden hatte. Nichts hatte sich verändert: das schummrige Licht, der Geruch nach Bohnerwachs, wie in der Schule, die endlose Reihe von Porträts kantiger Bullen und Kühe. Es erschreckte ihn, dass er hier im Haus so rasch und häufig rot wurde, und er stellte sich die bange Frage, ob Wilkes, seinerzeit Kammerdiener, stets hilfsbereit und taktvoll ihm gegenüber und irgendwie immer zur Verfügung, nicht auch bei anderen, seinem Gedächtnis entfallenen Szenen präsent gewesen war. Ob er nicht ab und zu, still und unbemerkt, erschienen und wieder verschwunden war. Gehörte es vielleicht sogar zu den Pflichten eines sehr guten Kammerdieners, zu spionieren, Briefe zu lesen, in Papierkörben zu stöbern, um die Wege und Gedanken seines Herrn besser kennenzulernen, seine Bedürfnisse vorauszuahnen? Würde dadurch der Respekt vor seinem Herrn steigen oder sinken? Stammte nicht von einem französischen Aphoristiker der Ausspruch, große Männer seien selten großzügig zu ihren Kammerdienern? Hier, wenn man um die Ecke bog, hatte Cecil ihn gepackt und geküsst, gleich in den ersten Minuten seines Besuchs auf Corley, als er ihm zeigen wollte, wo er sich die Hände waschen konnte. Auf seine herrische Art geküsst, mit einem Drall ins Aggressive. Die Erinnerung daran ließ für einen Moment sein Herz höher schlagen. Der Kuss, die Anspannung, die seine Ankunft auf einem großen Landsitz auslöste, sowie sein verwegenes Verlangen, Cecils Eltern zu beeindrucken und zu täuschen, all das hatte ihm plötzlich wahnsinnig Angst gemacht. Er hatte regelrecht gerungen mit Cecil, der stolz auf seine physische Kraft war. Die Garderobe war voll behangen mit Mänteln, als hätte nebenan eine Versammlung oder ein Konzert stattgefunden, und Cecil hatte ihn hineingeschubst und dabei einen schweren steifen Gummimantel vom Bügel gehoben, der sich ganz lang sam auf sie herabgesenkt und dem Geschehen vorübergehend ein komisches Ende bereitet hatte.
    Hinter den Mänteln befand sich die düstere, ganz in Marmor und Mahagoni gehaltene Toilette, dahinter wiederum ein dritter Raum mit einem turmhohen Wasserbehälter und gefängnisartigen Oberlichtern. George verschloss die Tür, aus einem nur erinnerten Bedürfnis nach Sicherheit heraus, und hielt gleich darauf beschämt inne, weil der Mann, vor dem er sich versteckte, längst tot war.
    Auf seinem Rückweg durch den Korridor gewann die Idee, der Gesellschaft noch eine Weile länger zu trotzen, neuen Reiz, und er beschloss, die Kapelle aufzusuchen und sich Cecils steinernes Abbild anzuschauen. Bei Daphnes und Dudleys Hochzeit war die Grabstätte noch nicht fertig gewesen, nur ein aus Ziegeln gemauerter Kubus, an dem man sich links oder rechts vorbeiquetschen musste. Damals hatte er es vermieden, ihn anzusehen. Dass seine Schwester mit Cecils Leichnam im Rücken geheiratet hatte, war ihm wie eine unterschwellige grausame Ironie erschienen. In der Halle hielt sich jetzt niemand auf, keine Stimmen waren zu hören. Er wich dem monströsen Eichentisch aus und lief durch die verglaste, seitlich am Haus verlaufende Arkade, halb Kreuzgang, halb Wintergarten, zur Tür der Kapelle. Auch hier schien alles wie immer, alt und altmodisch, eingetrübt und abgenutzt, und harrte ohne Zweifel Mrs Rileys rücksichtsloser Hand. Kaum zu glauben, dass dies Haus erst fünfzig Jahre alt war, jünger als seine eigene Mutter. Versunken in Habit und Historie. Steinerne Blumenkübel auf neogotischen Sockeln, drei primitiv verkabelte Messingleuchter, knapp mannshoch von der Decke baumelnd, Bodenfliesen im Kantenmuster, graugelb und karmesin. Die dunkle Eichentür der Kapelle schien den Besucher mit demselben schwarzen Starren wie früher zugleich anzulocken und zu entmutigen. George packte den kalten Türring, drehte ihn herum, hörte innen den Riegel hochschnappen, und wieder sah er Cecil vor sich, wie der ihn an jenem Nachmittag seines ersten Besuchs fest am Oberarm gepackt, einen Blick über die Schulter geworfen, ob ihnen jemand gefolgt war, und ihn mit den Worten »Diese finstere Höhle ist die Familienkapelle« hineingescheucht hatte. Aufgeregt und verwirrt hatte George sich umgeguckt, versucht, seine Ehrfurcht zu verbergen hinter einer demonstrativen Verachtung alles Religiösen, und gespürt, dass Cecil dennoch ein Zeichen des Staunens erwartete – sogar eine eigene Kapelle im Haus! Erschauert jedenfalls waren sie beide. Für ihre bescheidene Größe war die Kapelle recht hoch, das Dachgebälk in

Weitere Kostenlose Bücher