Fremden Kind
silberweißem Haupt, kam herein. Er drückte die Tür zu, nicht ganz, genau wie George, und trat vor. Offensichtlich wähnte er sich allein, und für George, von dem Grabmal verdeckt, barg dieser ungeschützte, nur wenige Augenblicke währende Ausdruck einen sonderbaren, beinahe heiteren Reiz. Stokes musste den leichten, aber ungewöhnlichen Kitzel seiner bevorstehenden Begegnung mit Cecil ge wiss spüren. George erkannte deutlich das Feminine und Nervöse in seinem Gang und seinem Blick, doch war da noch etwas, in dem Zug um seinen Mund, dem taxierenden Stirnrunzeln – etwas Hartes, Ungeduldiges, das in der grenzenlosen Diplomatie seines gesellschaftlichen Umgangs nicht zum Vorschein kam. Abrupt erhob sich George und freute sich diebisch, als Stokes kurz zusammenfuhr und dann erleichtert tat, wobei im ersten Moment eine Spur Verärgerung mitschwang. »Ah! Mr Sawle … Haben Sie mich aber erschreckt.«
»Sie mich auch«, hielt George ihm ruhig entgegen.
»Oh! Hm. Entschuldigen Sie.« Stokes ging um das Grabmal herum, nun mit verbindlicherem Ausdruck, freimütig, aber respektvoll, sodass seine Miene nichts verriet. »Eine sehr schöne Arbeit, finden Sie nicht? Darf ich George zu Ihnen sagen? Scheint ja nun den Gepflogenheiten des Hauses zu entsprechen, und man will nicht steif erscheinen.«
»Selbstverständlich, ich bitte darum«, sagte George und fragte sich, ob er Stokes ab jetzt Sebby nennen sollte, was ihm als ein unbefugter Vorschuss an Vertrauen gegenüber einem wesentlich älteren und eigentümlich, beinahe überraschend distinguierten Mann erschien.
»Eine große Ähnlichkeit. Nicht schlecht, bei allem, was recht ist«, sagte Stokes. »Leider gelingen solche Porträts nicht immer so gut, wenn der Künstler die Person nicht persönlich gekannt hat. Ich habe schon etliche zweitrangige Arbeiten gesehen.«
»Ja …«, sagte George aus Höflichkeit, betrachtete sich selbst jedoch in dieser Sache, da sie nun mal angesprochen war, als kritischer und kompetenter. »Gewiss, späterhin habe ich ihn nicht mehr gesehen«, räumte er ein, »doch in dieser Figur finde ich ihn nicht wieder.« Nachdenklich fuhr er mit den Fingern über Cecils Arm und blickte zerstreut auf die Marmorhände, die müßig auf dem von der Uniformjacke verdeckten Bauch ruhten, hätte sie beinahe berührt, die Hände eines Schlafenden. Sie waren klein und zart, stilisiert und ebenmäßig, eindeutig nach der Vorstellung des Professors ge formt. Es waren die Hände eines Gentlemans oder gar die eines großen Kindes, weder von Arbeit noch Alter gezeichnet. Es waren nicht die Hände von Cecil Valance, Bergsteiger, Ruderer und Verführer. Wenn der feine Kopf des Captains eine gut gemeinte Annäherung war, dann waren die Hände Betrug am Original. »Und die Hände stimmen leider ganz und gar nicht«, sagte George.
»Nein?«, sagte Stokes, im ersten Moment besorgt, dann ein wenig zögernd: »Ja, ich glaube, Sie haben recht«, und eine Ahnung von dem unterschiedlichen Grad ihrer Vertrautheit mit Cecil stand zwischen ihnen.
»Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«
»Oh, warten Sie mal …« Stokes sah ihn an. »Das muss etwa zehn Tage vor seinem Tod gewesen sein.«
»Oh, ja dann …«
»Er hatte unerwartet Urlaub bekommen, und ich lud ihn zum Essen in meinen Club ein.« Stokes sprach in einem natürlichen, sachlichen Ton, aber es war klar, dass ihm die Einladung sehr viel bedeutet hatte.
»Wie ging es ihm?«
»Oh, prächtig. Cecil war immer prächtig gelaunt.« Stokes lächelte die Marmorfigur an, die seine Einschätzung in jeder Hinsicht zu bestätigen schien. Wie schon zuvor bei Wilkes hatte George den Eindruck, der Ältere wolle mit seinen Worten eine in Georges Bemerkungen vermutete Unkorrektheit kritisieren. »Kennengelernt habe ich ihn ja auf einer Fahrt in einem Stechkahn «, sagte Stokes, und Georges Puls beschleunigte sich, als sich ihm die Gelegenheit zur Offenbarung bot, zu einer kleinen kurzweiligen Episode.
»Sie sind damals nach Cambridge gekommen …«, setzte er unverfänglich an, mit dem leisen Gefühl, dass die Gelegenheit dahinschwand. Sie hatten zu viert oder fünft in dem Stechkahn gesessen, Ragley und Willard, beide längst tot, waren auf jeden Fall dabei gewesen und dann noch jemand, von dem er kein Bild mehr vor Augen hatte. Seine ganze Aufmerksamkeit, so wie Sebbys offensichtlich auch, hatte der Gestalt mit der Stake im Heck des Bootes gegolten.
»Lady Blanchards Sohn Peter hatte mich eingeladen, um Cecil
Weitere Kostenlose Bücher