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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Dunkel gehüllt, und das durch die Buntglasfenster ge dämpfte Licht verlieh dem Raum nachmittags dieselbe Atmosphäre wie unmittelbar nach einem Sonnenuntergang. Blasse Gegenstände leuchteten schwach, und andere, Fliesen und Gobelins, waren düster, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten.
    Zwischen den grauen Schatten erkannte er nun Cecils weiße Gestalt, dahingestreckt und wie über dem Boden schwebend. Die Sonne strahlte schon lange nicht mehr durch das grelle Glas des Ostfensters, und was an Licht noch übrig blieb, schräg einfallend und dünn, schien sich in Cecil zu bündeln. Seine Füße zeigten nach vorn zum Altar. Es war, als wäre die Kapelle für ihn errichtet worden.
    George stieß die Tür zu, ohne sie ganz zu schließen, und blieb mit ernster Miene und einem beklemmenden Gefühl vor der hintersten Kirchenbank stehen. Er war wieder allein mit seinem alten Freund, und es war fast so, als besuchte er ihn in einem Lazarett statt einer Kirche und hätte Angst, ihn zu stören, hoffte gar, ihn schlafend vorzufinden, um sich reinen Gewissens davonstehlen zu können, ohne sein Versprechen gebrochen zu haben. Solche Besuche hatte er während des Krieges und auch danach häufig gemacht und sich jedes Mal davor gefürchtet, was aus einem Kameraden geworden war und dass der Schreck sich in seinem Gesicht wider spiegeln könnte. Hier herrschte der schwere süße Geruch von Osterglocken statt Desinfektionsmitteln. »Hallo, Cecil, alter Knabe«, sagte er, freundlich und nicht sehr laut. Ein schwaches Echo schlug zurück, und in der nachfolgenden Stille lachte er leise in sich hinein. Sie brauchten sich nicht krampfhaft zu unterhalten. Er lauschte auf die Stille, die Kirchenstille, hinter der sich schwache ausgesperrte Geräusche verbargen – Vogelgesang, das ferne periodische Rattern des Rasenmähers und ein dumpfes Klopfen, das nicht vom Wind auf dem Dach herrührte, sondern sein eigener Pulsschlag war.
    Cecil war in seiner Paradeuniform aufgebahrt, mit großer Liebe zum Detail. Besondere Aufmerksamkeit hatte der Bildhauer auf die Ärmelabzeichen, die rechteckigen Sterne eines Captains, die schmalen Balken des Military Cross gelegt. Matt schimmerten die Knöpfe in ihrem neuen Glanz, in Mar mor verwandelter Messing. Von wem war die Skulptur? George bückte sich, um den Namen zu entziffern, ein schnei diger Schriftzug am Kissensaum: »Professor Farinelli« – schneidig und eine Spur schulmeisterlich. Die Steinplastik ruhte auf einem schlichten weißen Block, um den ein nicht gut lesbares Schriftband mit gotischen, geflochtenen Lettern verlief: cecil teucer valance mc + captain 6. batt. königl. berkshire regt. + geb. 13. april 1891 + gef. in maricourt 1. juli 1916 + cras ingens iterabimus aequor. Es war eine durch und durch gediegene Arbeit, angemessen und solide. George erschien sie, so wie die ganze Kapelle damals bei seinem ersten Besuch, wie eine stumme, bedrückende Bestätigung des Reichtums und Status der Familie; sie drückte aus, was sich geziemte. Sie stellte Cecil in ein langes Gefolge von Rittern und Adligen, das über Jahrhunderte zurück bis zu den Kreuzzügen reichte. Für einen Moment sah George es vor sich als eine Flotte schimmernder Boote in Hunderten von Kapellen und Kirchen im ganzen Land. Er umfasste Cecils Marmor-Stiefelspitzen und bewegte sie gutmütig hin und her; seine Hände bewegten sich, nicht die Stiefelspitzen. Dann trat er an die Seite des Blocks, um das Gesicht des Toten zu betrachten.
    Sein erster Gedanke war, dass er Cecils Gesichtszüge nach allem Ermessen eigentlich längst hätte vergessen müssen, seit er vor zehn Jahren zuletzt in einem Raum mit ihm gewesen war. Doch nein, die lange, gebogene Nase, die breiten Wangenknochen, der entschlossene Mund, so hatte er ihn auch in Erinnerung. Die hervorstehenden Augen waren selbstverständlich geschlossen, das Haar soldatisch kurz und, wie seinerzeit üblich, straff nach hinten gekämmt, in der Mitte gescheitelt. Die Nase wirkte wie ausgemessen. Der ganze Kopf hatte etwas Idealtypisches, das an standardisierte Formate denken ließ, ein simplifizierender Ausgleich, ohne Zweifel einvernehmlich, zwischen den Wünschen der Eltern und den begrenzten Fähigkeiten des Künstlers. Der Professor war Cecil nie persönlich begegnet, er musste anhand von Fotos gearbeitet haben, die Louisa ausgesucht hatte und die ihre eigene Wahrheit erzählten. Cecil war häufig fotografiert und zweifellos auch häufig beschrieben worden; seine Person

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