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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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verlangte geradezu danach, was eine Seltenheit war, lebten doch die meisten Menschen Jahre vor sich hin, ohne dass je ein Wort über ihr Aussehen verloren wurde. Und dennoch mussten all diese Beschreibungen scheitern, so wie dieses prächtige Grab mal … Minutenlang hing George seinen Gedanken nach, betrachtete die polierten marmornen Gesichtszüge, die geschlossenen Augen, die wie kleine, umsäumte Polster aussahen und einst in ihn hineingeblickt hatten. Er überlegte bereits, welche Sätze er sagen würde, wenn er sich nachher mit Louisa unterhielt, und versuchte gleichzeitig, eine andere, unerwartet in ihm aufsteigende Traurigkeit im Zaum zu halten: nicht die über den Verlust von Cecil, sondern dass ihm die Erfüllung der verborgenen Sehnsucht, ihm wiederzubegegnen, die der Tag und der Ort in ihm geweckt hatten, unverzüglich versagt wurde.
    Trotzdem wollte er noch ein paar Minuten hierbleiben, sich auf die Kirchenbank daneben setzen – warum, vermochte er nicht zu sagen, doch als er saß, legte er den Kopf in die aufgestützten Hände, beugte sich ein Stück vor und sprach, auf eher vage, wortlose Art, ein Gebet aus Vorstellungen und Vorwürfen. Er blickte auf, nun auf Augenhöhe mit Cecils schlafender Gestalt: die starre Nase, die zur Decke zeigte, das allgemein Soldatische des Körpers, vermutlich nur eine vom Modell des Künstlers eingenommene Pose, Cecil nicht ganz unähnlich, kein Kümmerling und auch kein Riese, dennoch nicht das, was Cecil ausgemacht hatte. Bilder des »besonderen« Cecil kamen in ihm hoch: nackt und triefend nass am Ufer des Cam; in Rugbyhose und klackernden Schuhen durch die Backs trabend; vor einem Spiel weiß und unantastbar, danach dreckbespritzt und blutüberströmt. Es waren herrliche Bilder, doch verschwommen vom vielen Tuschieren und Retuschieren. Es gab noch andere Bilder, magischere und intimere, weniger Gesehenes als Erspürtes, Erinnerungen, die seine Hände bewahrten, Cecils Glut, die erregende Schönheit seiner Haut, die warme Taille unter seinem Hemd, die hüft abwärts reichende Spur aus drahtigen Löckchen. Georges Fin ger spreizten sich in zärtlicher, zögerlicher Rückbesinnung. Nicht zu vergessen das gefeierte … das gefeierte membrum virile , jetzt auf ewig unter dem Marmorgewand verborgen und nur zu erahnen, doch einstmals quicklebendig. Wie Cecil darüber schwadronierte, aufgeblasen und verantwortungsbewusst – man hätte meinen können, es sei die Magna Charta. Absurd, aber unbestreitbar, selbst jetzt, sodass George wieder rot anlief – er dachte an Madeleine, als eine Art Heilmittel, auch wenn es so nicht zu funktionieren schien, ja, eigentlich überhaupt nicht zu funktionieren schien.
    George stützte den Kopf wieder in die Hände, wunderte sich über diese Erforschung vergangener Gefühle. Es war furchtbar, dass Cecil nicht mehr lebte, er war in vieler Hinsicht ein wunderbarer Mensch gewesen, und wer weiß, was er noch alles für die englische Dichtung geleistet hätte. Dennoch, es konnten Monate vergehen, ohne dass George ein einziges Mal an ihn dachte. Wenn Cecil am Leben geblieben wäre, hätte er geheiratet, geerbt und unaufhörlich Kinder gezeugt. Und es wäre sicher merkwürdig gewesen, mit Sir Cecil in irgendeinem mittelalterlichen Salon auf dem Kaminvorleger zu stehen, vereint in der strikten Verleugnung ihrer ge meinsamen wilden, sodomitischen Vergangenheit. War es über haupt eine Vergangenheit? Es waren nur wenige Monate, nur ein einziger kurzer Moment. Oder hätte es später vielleicht doch noch einen zweiten solchen Moment gegeben: irgend wann abends im Arbeitszimmer, das Cecil jetzt so selbst verständlich benutzte wie früher sein Vater, eine instinktive Hingabe an die alte Leidenschaft, George glatzköpfig und professoral, Cecil hager und narbenbedeckt? Konnte Leidenschaft solche Veränderungen überleben? Es war eine fantastische Szene, eindeutig. Hätte er seine Brille abgenommen? Vielleicht hätte Cecil mittlerweile auch eine Brille getragen, ein Monokel, das just dann, als sich ihre Lippen aufeinander zubewegten, herunterfiel. Nur junge Männer küssten sich, und auch sie küssten sich nicht oft. Er sah das anmutige verzagte Gesicht von Revel Ralph vor sich, und er sah sich selbst in ähnlich spannungsvoller Nähe zu ihm, als ihn plötzlich ein Herzrasen ergriff, wie er es schon fast vergessen hatte.
    Ein kurzes scharfes Ächzen der Türangeln, und Sebby Stokes in seiner stillen, beflissenen Art, mit strahlend weißem Stehkragen und

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