Fremden Kind
unerwünschtes Mitleid viel subtilerer Art hindeutete.
»Eine Zeit lang waren wir dicke Freunde.«
»Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich kennengelernt haben?«
»Stellen Sie sich vor – ich weiß es nicht mehr genau.«
»Vermutlich doch auf dem College …«
»Cecil war auf dem College bekannt wie ein bunter Hund. Man fühlte sich durch seine Zuwendung geschmeichelt. Ich glaube, ich hatte … ach ja, ich hatte einen Preis für einen Essay gewonnen. Cecil interessierte sich lebhaft für die jüngeren Geschichtsstudenten …«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Stokes mit einem kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern.
»Eigentlich kann ich darüber nicht sprechen«, sagte George und sah Stokes’ Anflug eines Lächelns in unterdrückter Neugier gefrieren. »Aber … die Geheimgesellschaft dürfte Ihnen doch bekannt sein.«
»Ah, ich verstehe, die Gesellschaft …«
»Cecil war mein Fürsprecher.« Es war erstaunlich – und nützlich zugleich –, wie sich ein Knäuel von Geheimnissen im anderen einnistete.
»Ich verstehe«, wiederholte Stokes mit der Miene des Oxford-Absolventen, der sich über die possierlichen Sitten von Cambridge mokierte. Dabei entsprach gemeinsame Geheimniskrämerei durchaus seinem Naturell, und seine Gesichtszüge glätteten sich wieder, um Anspielungen und Andeutungen bereitwillig aufzunehmen. »Deswegen hat er …«
»Er hatte sich in mich ver… hatte mich ausgeguckt«, sagte George schroff, als würde er sich schon damit zu viel vergeben.
Stokes’ Lächeln wirkte fast ein bisschen verschlagen. »Und? Lassen Sie sich manchmal noch blicken?«
»Dann wissen Sie also über uns Bescheid. Vielleicht weiß es längst jeder.«
»Ach, ich glaube, keineswegs.«
George zuckte mit den Schultern. »Ich war seit Jahren nicht mehr da. Die Arbeit am Fachbereich in Birmingham füllt mich voll und ganz aus. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das bindet.« Er hörte das Zwanghafte in sei nen eigenen Worten und glaubte zu beobachten, dass auch Stokes es registrierte, in sich aufnahm und versteckte. Mit einem schnellen Lachen fuhr er fort: »Ehrlich gesagt, habe ich Cambridge längst hinter mir gelassen.«
»Vielleicht wird man Sie eines Tages wieder rufen.«
Anscheinend spielte Stokes auf die Welt diskreter Mächte, geheimer Komitees und Berater an; George lächelte über das Angebot und murmelte: »Vielleicht. Wer weiß.«
»Ach übrigens, wie sieht es mit Briefen aus?«
»Oh, ich habe viele Briefe von ihm bekommen«, sagte George mit einem Seufzer und griff Stokes’ Wort auf, »wirklich prächtige Briefe. Aber leider sind sie alle verloren gegangen, als wir aus Two Acres ausgezogen sind. Jedenfalls sind sie nie wieder aufgetaucht.«
»Das ist ja schade«, sagte Stokes mit einer Ernsthaftigkeit, die schon wieder einen vagen Verdacht nahelegte. »Die Briefe, die ich von Cecil bekommen habe, nur eine Handvoll, aber sie sind fabelhaft … so fröhlich . Er hatte eine solche Tatkraft, eigentlich bis zum Schluss. Ich werde auf jeden Fall einige schöne Auszüge abdrucken.«
»Das will ich hoffen.«
»Und sollten sich Ihre Briefe je wieder finden …«
»Ach«, sagte George lachend, um ein flüchtiges Schwindelgefühl zu verbergen. Hat je ein Mann einen solchen Brief an einen anderen Mann geschrieben? Die Welt würde aufschreien und mich verdammen, könnte sie mir über die Schulter blicken, und doch ist alles darin so natürlich und wahrhaftig wie der Frühling . Er glitt an Stokes vorbei, wieder zurück zum Grabmal, und erlaubte sich eine ganz praktische Frage. »Sie sind sein literarischer Nachlassverwalter, nehme ich an?«
»Ja«, sagte Stokes und ergänzte, weil er noch etwas anderes aus der Frage heraushörte: »Er hat mich nicht dazu bestimmt, um ganz ehrlich zu sein – aber ich habe ein Versprechen gegeben, dass ich mich um alles kümmern werde.« George sah ein, dass er ihn schlecht fragen konnte, ob er dieses Versprechen Cecil persönlich gegeben oder sich die Pflicht bloß selbst auferlegt hatte.
»Ein Glück für ihn, wenigstens in der Hinsicht.«
»Jemand muss es ja machen …«
»Ja, aber jemand mit Urteilsvermögen. Nachgelassene Veröffentlichungen steigern nicht immer den Ruf eines Autors.« Er schlug einen nüchternen, fast akademischen Ton an. »Ich weiß ja nicht, wie Sie Cecil Valance als Dichter einstufen.«
»Oh …« Stokes sah George an, dann wieder Cecil, der auf einmal eine gewisse Befangenheit in ihm auslöste, die Marmornase ein Seismograf für
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