Fremden Kind
aufrechten Haltung einer Oberschwester. Es war unmöglich zu erahnen, wie viel sie wusste, geschweige denn zu wissen, wie viel sie er ahnte. »War er nicht größer?«, sagte sie.
»Ja … wahrscheinlich …«, sagte George und stellte sich ihr gegenüber, auf die andere Seite der Figur, mit dem deutlichen, unaufrichtigen Wunsch, sich offen, locker und, wenn nötig, kritisch zu zeigen. »Aber das ist gar nicht das Entscheidende.«
»Muskulöser?«, fragte Madeleine weiter und gab damit zu erkennen, was man ihr über den toten Helden beigebracht hatte.
George schüttelte bedächtig und stirnrunzelnd den Kopf. »Was soll ich sagen? Einfach irgendwie lebendiger.«
»Ah ja«, sagte Madeleine und sah ihn kurz fragend an. »Hat euer Gespräch etwas ergeben?«
»Ihr Mann war mäßig entgegenkommend«, sagte Stokes. »Deswegen bin ich auch noch nicht fertig mit ihm.«
»Sebastian hat nämlich viel vor«, sagte George lachend.
Artig neigte Stokes den Kopf. »Allerdings, und ich muss vorankommen. Ich habe Ihrer Frau Mutter versprochen, sie zu befragen.« Bei der Aussicht auf noch mehr Arbeit und weitere Überlegungen verhärtete sich sein Gesicht wieder, und er verließ den Raum.
George blickte auf zu seiner Frau, dann wieder hinunter zu Cecil, der zwischen ihnen lag und irgendwie zu einer Art Beweisstück geworden war, zweideutig, aber unüberwindlich. Er spürte beinahe körperlich den Themenwechsel, als er sich abwandte und sagte: »Bis jetzt war der alte Valance ja noch ganz erträglich, finde ich.«
Madeleine lachte verkniffen. »Bis jetzt. Aber wir sind ja auch erst seit drei Stunden hier.«
»Es muss ihm ziemlich auf die Galle gehen, dass jetzt schon wieder so ein Wirbel um Cecil veranstaltet wird.«
»Warum sollte es«, widersprach Madeleine, schon aus Prinzip.
»Es ist absehbar, dass sich diese Gedenktage bis in alle Ewigkeit wiederholen.«
»Dudley Valance ist ein sehr merkwürdiger Mensch. Ich fände es traurig, wenn er nach so langer Zeit immer noch eifersüchtig sein sollte.«
»Du musst verstehen, der Krieg war schlimm für ihn.«
»Obwohl nicht so schlimm wie für Cecil, könnte man meinen. Louisa hat mir gerade die Umstände seines Todes erzählt. Dass sie persönlich nach Frankreich gefahren sind, um ihn zu besuchen.«
»Ja, er hat wohl noch einige Tage durchgehalten.« George war klar, dass »gefallen in Maricourt« nur eine klangvolle Formel war, nicht die schmutzige verbriefte Wahrheit.
»Sie haben die Erlaubnis eingeholt, den Leichnam zu überführen. Ich sage ›sie‹, aber ich hatte den Eindruck, dass es allein auf Louisas Betreiben geschah.«
»Sie wird nicht umsonst der General genannt.«
»Kann man gut verstehen, dass sie ihren Sohn sehen wollten«, bemühte sich Madeleine um Anstand.
»Natürlich, Darling.«
»Nur denkt man sofort an die Tausenden Eltern, die das eben nicht konnten.«
»Wohl wahr. Zum Beispiel meine arme Mutter.«
»Siehst du«, sagte Madeleine, eher streitsüchtig statt versöhnlich – denn das war die Art der beiden, die besondere Form ihrer Vertrautheit, die jetzt durch einen beunruhigenden Gedanken unter Spannung geriet. »Sie brachten ihn hierher zurück, und er wurde in seinem eigenen Zimmer aufgebahrt, mit Blick auf die aufgehende Sonne.«
»Oh Gott. Im Sarg?« George kämpfte mit zusammengepressten Lippen gegen ein entsetztes Kichern an.
»Das wurde mir nicht ganz klar«, sagte Madeleine.
»Nein … Wo genau wurde er getroffen?«
»Danach konnte ich sie schlecht fragen. Vermutlich war er schwer entstellt.«
George sah, dass es ihm bisher gelungen war, solchen Fragen aus dem Weg zu gehen, und er hatte das Gefühl, dass Madeleine den Moment, sie zu stellen, mit Bedacht gewählt hatte.
»Du hast mir nie erzählt, wie du die Nachricht bekommen hast«, sagte sie.
»Ach, nein, Mad …?« George blinzelte und sah stirnrunzelnd zu Boden. Seine Gedanken wanderten die Diagonalen der größeren, roten rautenförmigen Fliesen entlang. Madeleine hatte ihn etwas gefragt, und er war ihr eine Antwort schuldig.
»An einige Dinge in dem Zusammenhang erinnere ich mich sehr gut. Ich war zu der Zeit in Marston, es war sehr heiß, und wir alle waren müde und angespannt wegen der Ereignisse in Frankreich. Nach dem Essen wurde ich ans Telefon gerufen. Kaum hörte ich Daphnes Stimme, hatte ich plötzlich furchtbare Angst, es könnte Hubert etwas zugestoßen sein, und als es dann um Cecil ging … Ich schäme mich, das zu sagen, aber ich weiß noch, die Nachricht
Weitere Kostenlose Bücher