Fremden Kind
vernachlässigbar?«
»Sie sind alle an Mama gerichtet!«
»Natürlich …«
»Sehr misslich.«
»Nicht auch rührend, auf ihre Art?«
»Rührend, ja, das auf jeden Fall.«
George lächelte reumütig. »Und danach vermutlich die Zeit am Marlborough College.«
»Da hellt sich der Blick schon ganz erheblich auf. Selbstverständlich nehme ich auch einige der Schülerarbeiten mit hinein, die wir aus Nachtwache kennen, und den Marlburian werde ich mit größter Aufmerksamkeit durchforsten.«
»Noch mal nachgefragt: Gibt es irgendwelche unbekannten Sachen aus den letzten Jahren?«
Für eine Sekunde sah Stokes ihn eindringlich, geradezu flehentlich an. »Wenn Sie von welchen wissen …«
»Wie gesagt, wir hatten den Kontakt verloren.«
»Nein … Aber es gibt da etwas, was mich sehr beschäftigt.« Stokes schielte hinüber zum Grabmal. »Als ich Cecil damals an dem besagten Abend in London zum letzten Mal sah, zeigte er mir einige neue Gedichte, manche unvollendet. Nach dem Essen sind wir in meine Wohnung gegangen, und er las sie mir vor, es muss etwa eine halbe Stunde gedauert haben. Es war sehr eindrücklich, einmal die Gedichte an sich, aber auch sein Vortrag: Er las sehr leise und … nachdenklich. Eine neue Stimme; man könnte sagen, eine persönliche Stimme, aber ebenso poetisch, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich war sehr betroffen und tief berührt.« Für einen Moment verschlug es Stokes vor lauter wiedererwachten Gefühlen die Sprache.
George stellte sich diese Szene mit dem Cecil vor, den Stokes nie kennengelernt hatte, den Nudisten, Satyr und Unzüchtigen – es geschah mit Nachsicht, aber auch einer Spur Neid: die Junggesellenwohnung, Cecil in Uniform, der Soldat auf Urlaub, die knapp bemessene Zeit, der Luxus eines Gesprächs über Gedichte am Kaminfeuer. »Und wovon handelten die Gedichte?«
»Ach, es waren Kriegsgedichte, Gedichte über seine Männer, das Leben in den Schützengräben. Sie waren sehr … offenherzig «, sagte Stokes leichthin und suchte dabei kurz Georges Blick.
»Hm, ich würde sie gerne einmal sehen.« (Nein, das mit dem Kaminfeuer war Unsinn, das verwechselte er mit einer anderen Erinnerung – es musste Juni gewesen sein, die Fenster geöffnet, in die Londoner Nacht hinaus.)
Stokes nickte ungeduldig. »Das würde ich auch.«
»Ah, dann hat er sie Ihnen also nicht überlassen.«
»Er hatte versprochen, sie mir zu schicken«, sagte Stokes leicht gereizt und fügte sich mit einem Schnaufen in das Unabänderliche: »Aber dann ist er zurück nach Frankreich gegangen und ist wohl nicht mehr dazu gekommen.«
»Er hatte andere Sorgen«, sagte George.
»Ganz sicher«, sagte Stokes, der deutlich machte, dass er solche Belehrung nicht brauchte.
»Und bei seinen Hinterlassenschaften fanden sich die Gedichte auch nicht?« George konnte sich gut vorstellen, wie dieses Versehen Stokes’ ziemlich durchschlagende Effizienz erschüttert haben musste.
Stokes schüttelte den Kopf und blickte rasch, beinahe lauernd auf, als die Tür hinter ihm ächzte. »Wie dem auch sei … da kommt Ihre Frau!«
George drehte sich um und sah Madeleine vorsichtig die Düsternis betreten. Beruhigend hob er eine Hand und rief: »Hallo, Mad«, was ein Echo freisetzte.
»Ach, hier seid ihr«, sagte Madeleine. Sie trat vor und wartete ab, bis sich die Augen an die Schattenwelt und möglicherweise noch etwas anderes, Atmosphärisches angepasst hatten. »Betet ihr, oder brütet ihr etwas aus?«
»Weder noch«, sagte George.
»Sowohl als auch«, sagte Stokes.
»Wir kommunizieren mit Cecil«, sagte George.
»Den wollte ich gerade besuchen«, sagte Madeleine in ihrem eigenartigen Tonfall, in dem möglicherweise Humor mitschwang – George hatte schon beobachtet, wie andere sie beim Versuch, ihren Sinn für Humor auszumachen, mit großen Augen angestarrt hatten. Die beiden Männer standen schweigend und aufmerksam, während Mad sich dem Grabmal näherte und es mit ihrem akademisch verbindlichen Interesse und ihrer kühlen Unempfänglichkeit für alle ästhetischen Reize betrachtete. »Ist die Ähnlichkeit groß?«, fragte sie.
»Das vermochten wir letztlich auch nicht recht zu klären, oder, George?«, sagte Stokes. »Ist es nun Cecil, oder ist es doch jemand anders?« Er hatte eine gewisse Art, Partei zu er greifen und sich über Madeleine lustig zu machen, die George sofort durchschaute und ihm übel nahm. »Ich finde nicht, dass es Cecil ist, leider«, sagte er.
Madeleine stand am Kopfende, mit der
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