Fremden Kind
Stapel. Daphne war nicht imstande gewesen, sie vorher noch mal durchzulesen, aus Scham über das, was sie über sich und über Cecil aussagten. »Es sind wunderschöne Passagen darin – ich habe sie gestern Abend auf meinem Zimmer bis spät in die Nacht gelesen.« Er lächelte sanft, während er die gefalteten kleinen Seiten umblätterte, und kostete die Freude an der Lektüre zum zweiten Mal aus. Daphne sah ihn mit einem Kissen im Rücken gemütlich in dem Prunkbett im Granatzimmer sitzen und mit einer Mischung aus Beflissenheit und Bedauern in den Dokumenten stöbern. Den Umgang mit vertraulichen Papieren war er gewohnt, den mit Liebeserklärungen überreizter junger Männer jedoch nicht. Er hielt inne, sah zu ihr auf und fing in einem zarten, einfühlsamen Ton an zu lesen: »Der Mond, mein liebes Kind, scheint heute Nacht wohl auch so hell auf Stanmore wie auf Mme Collets Gemüsegarten und die lange Nase des Adjutanten, der so laut schnarcht, dass er den Hunnen weiter hinten im Raum wecken könnte. Schläfst Du auch – schnarchst Du, mein Kind? – oder liegst Du wach und denkst an Deinen armen schmutzigen Cecil in der Ferne? Er braucht den lieben Zuspruch seiner Daphne und …« Diskret verstummte Sebby, bevor der Brief in Intimitäten abglitt. »Entzückend, nicht?«
»Oh … ja … ich kann mich nicht erinnern«, sagte Daphne und wandte den Kopf zur Seite, um einen Blick auf das Blatt zu werfen. »Die Briefe aus Frankreich sind etwas besser, nicht?«
»Ich finde sie sehr anrührend«, sagte Sebby. »Ich selbst besitze auch Briefe von ihm, zwei, drei, aber in diesen hier schlägt er einen völlig anderen Ton an.«
»Er hatte ja auch etwas zu sagen.«
»Er hatte viel zu sagen«, erwiderte Sebby mit einem schnellen Lächeln, das zugleich Höflichkeit und Vorwurf erkennen ließ. Er überflog noch einige weitere Briefe, und Daphne fragte sich, ob sie Sebby je ihre Gefühle würde erklären können, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie musste sie zunächst selbst begreifen, und diese kleine Plauderei würde ihr dabei wohl kaum weiterhelfen. Was sie damals empfunden hatte, was sie heute empfand und wie sie heute über ihre damaligen Empfindungen dachte – es war alles andere als einfach. Sebby war eingefleischter Junggeselle, sein Verständnis für die erste Liebe eines jungen Mädchens oder gar für Cecil als Liebhaber dürfte wenig ausgeprägt sein. Cecils Art, seine Liebe zu zeigen, bestand darin, abwechselnd sie und sich selbst zu beschimpfen: Große Freude kam da nicht auf, trotz seines viel zitierten Übermuts. Glücklich schien er immer dann zu sein, wenn er fern von ihr war, also praktisch die meiste Zeit; und sie hatte immer deutlicher gespürt, wie sehr er diese Phasen der Abwesenheit, die er stets bedauerte, tatsächlich genoss. Der Krieg, als er dann endlich ausbrach, war ein Geschenk der Götter. »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen«, sagte Sebby, »aber ich würde mir gerne mit Ihrer Hilfe ein deutlicheres Bild verschaffen über das, was hätte sein können … Ah ja, hier ist der Brief vom Juni 1916, ›Sag mir, Daphne, willst Du meine Witwe werden?‹«
»Oh, ja …« Sie errötete leicht.
»Wissen Sie noch, was Sie ihm darauf geantwortet haben?«
»Oh, ich sagte natürlich Ja.«
»Und Sie betrachteten sich als … verlobt?«
Daphne lächelte und schaute auf den tiefroten Teppich, im ersten Moment beinahe verwundert, dass sie es letztlich doch an diesen Ort verschlagen hatte. Welchen Stellenwert hatte eine längst verlorene Erwartung? An irgendeine Vorstellung von einem zukünftigen Leben mit Cecil, der sie damals nachgehangen haben könnte, vermochte sie sich heute jedenfalls nicht zu erinnern. »Soweit ich weiß, einigten wir uns darauf, es geheim zu halten. Ich entsprach nicht gerade Louisas Wunschkandidatin für die nächste Lady Valance.«
Sebbys Lächeln über diese ironische Bemerkung fiel einigermaßen verstohlen aus. »Ihre Briefe an Cecil sind nicht erhalten.«
»Das hoffe ich doch sehr!«
»Ich habe den Eindruck, dass Cecil überhaupt keine Briefe aufgehoben hat, womit er es uns wirklich ziemlich schwer macht.«
»Er hat eben geahnt, dass eines Tages Sie daherkommen würden, Sebby!«, sagte Daphne und lachte, um ihr Staunen über den eigenen Tonfall zu verbergen. Er war solchen Spott nicht gewohnt, und sie war unsicher, ob er ihn ihr übel nehmen würde oder nicht.
»Fürwahr!« Sebby stand auf und suchte ein bestimmtes Buch auf dem Tisch. »Ich will Sie nicht länger
Weitere Kostenlose Bücher