Fremden Kind
sie vor ihrem inneren Auge bestimmte Formulierungen, sah sie sich dicht gedrängt und schlangenartig durch das Herz des Bündels winden. Nie und nimmer würde sie diese Briefe ein zweites Mal lesen, das musste sie sich nicht antun. Briefe aus dem King’s College, Cambridge, aus Hamburg, Lübeck, dem Vorkriegsdeutschland, Mailand, Briefe sogar aus diesem Haus. Sie quetschte sie wieder in den braunen Umschlag, der jetzt noch weiter aufriss, dadurch beinahe gänzlich unbrauchbar wurde. Dann brachte sie ihre Frisur in Ordnung, übertünchte vergeblich mit ein paar Tupfern Puder die Sorgenfalten in ihrem Gesicht und begab sich wieder auf den langen Flur zu Claras Zimmer.
Clara hatte ein Feuer in ihrem Kamin anzünden lassen und sich davorgesetzt, gekleidet, als wollte sie ausgehen, doch ohne Schuhe, die Beine, die in braunen Stützstrümpfen steckten und ihr große Schmerzen bereiteten, hochgelegt auf einen Kissenberg.
»Hat Stokes schon mit Ihnen gesprochen?«, sagte sie.
»Ja. Es war nichts Besonderes.«
»Hm, Sie waren sehr schnell wieder draußen«, sagte Clara in dem halb bewundernden, halb kritischen Ton, an den Freda sich gewöhnt hatte.
»Man möchte ihm nicht seine Zeit stehlen«, murmelte sie, selbst mühsam ihre Ungeduld kaschierend. »Hat man sich um Sie gekümmert?« Sie machte sich im Zimmer zu schaffen, als wollte sie nun das Kümmern übernehmen, und ging dann unruhig zum Fenster. »Möchten Sie nach draußen? Ich habe nachgefragt, sie haben hier immer noch Sir Edwins alten Rollstuhl. Wenn Sie ihn benutzen wollen – man würde ihn holen.«
»Nein, Freda, herzlichen Dank.«
»Der hübsche schottische Junge würde Sie sicher liebend gerne schieben.«
»Nein, nein, meine Liebe, wirklich nicht nötig.«
Wenn sie sich nicht überreden ließ, hatte es keinen Zweck. Freda wusste, dass sie beide eigentlich lieber nach Hause fahren wollten, nur konnte Clara das nicht so deutlich sagen, und für Freda wäre es ein erbärmliches Eingeständnis gewesen. Ihre Tochter fehlte ihr, und sie liebte ihre Enkelkinder, doch Besuche auf Corley Court waren im Allgemeinen eine Strapaze. Selbst die Cocktailstunde verlor etwas von ihrer üblichen Verheißung, wenn Cocktails auf den Gastgeber so eine verheerende Wirkung hatten.
»Bekommen wir noch etwas von Corinna am Klavier zu hören«, sagte Clara, »bevor wir abreisen?«
»Ich glaube, heute Abend. Dudley hat es ihnen versprochen.«
»Oh, na dann.«
Dieses Schlafzimmer, auf der Rückseite des Hauses, ging auf eine Rasenfläche hinaus, die bis zu der hohen roten Steinmauer des Küchengartens reichte, hinter der die Dachfirste von Gewächshäusern im Sonnenlicht schimmerten. Freda, sonst keine Spaziergängerin, überlegte, ob sie einen einsamen kleinen Bummel unternehmen sollte, um ihre Nerven zu beruhigen – obwohl sie damit rechnen musste, dabei einem der galanten Gäste in die Falle zu gehen. Vor Mrs Riley fürchtete sie sich, und der Charme des jungen Mr Revel Ralph war ihr suspekt. »Ich gehe mal an die Luft, meine Liebe«, sagte sie über die Schulter. Clara brummte geistesabwesend, als wäre sie viel zu beschäftigt, es sich bequem zu machen, um noch zu verstehen, was ihre Freundin sagte. »Angeblich soll hier eine Magnolie wachsen, die man unbedingt gesehen haben muss.« Aus dem französischen Teil des Gartens kamen jetzt zwei braun gekleidete Gestalten geschlendert, George, die Hände auf dem Rücken, Madeleine, die Hände in den Taschen ihres Regenmantels. Es sah aus, als wären ihre Hände voreinander weggesperrt, und obgleich die beiden in ein angeregtes Gespräch vertieft waren, George den Kopf nach hinten warf, um seinen Äußerungen mehr Gewicht zu verleihen, wirkten sie eher wie Kollegen und nicht wie ein Paar.
Freda stand am Fenster und sah sich bereits über den Rasen stapfen und die Briefe, da sie sie schon mal bei sich hatte, in einem leichtsinnigen und beflügelten Moment der Erkenntnis George zurückgeben – eine Tat, die sich am Ende dieses leidigen Besuchs auf Corley Court vielleicht noch als der größte Erfolg erweisen würde. Es wäre eine Art Exorzismus, dieser Teufel endlich ausgetrieben. Ihr Herz hüpfte bei der doppelten Wucht, mit der ihr der Gedanke und die Gelegenheit bewusst wurden – beinahe zu günstig, ohne die Zeit, darüber nachzudenken oder es sich anders zu überlegen. Und dann auf einmal sah sie die Briefe, wütend in die Luft geworfen, zwischen ihnen zu Boden sinken, über den Rasen wehen, wie sie von einer plötzlich
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