Fremden Kind
floskelhafter Dankesbrief. Sie sah Stokes den Bogen Papier wohlwollend, aber rasch überfliegen, dann das Blatt umdrehen, als könnte auf der anderen Seite noch etwas von Interesse stehen, aber natürlich stand dort nichts. Er saß vor ihr wie der Hausarzt der Familie, so hatte er es selbst ausgedrückt, doch für sie war er eine einschüchternde Gestalt, bedeutend, zäh, geschmeidig, jemand, der täglich mit Sir Hubert Samuel und Mr Baldwin konferierte. Er war charmant, aber sein Charme war der Charme der Diplomatie, der Charme, der nicht nur gefallen sollte, sondern auch Zeit sparen und Dinge vorantreiben, kaum der Charme eines zuverlässigen Freundes. Sie war sich lächerlich vorgekommen, und der Druck all der Dinge, die sie gerne gesagt hätte, aber nicht sagen würde, machte die einfachste Unterhaltung unmöglich. Nur eins sagte sie ihm, dass Cecil eine fürchterliche Unordnung in seinem Zimmer angerichtet hatte, und aus ihrem Mund hörte es sich kleinlich an, so etwas über einen Dichter und Helden zu sagen, der immerhin das Military Cross verliehen bekommen hatte. Darüber hinaus spielte sie auf seine »Lebhaftigkeit« an, die vielen Sachen, die er kaputt gemacht hatte – aber auch dies klang wie die erbärmliche Beschwerde einer Witwe. Wovon sie nicht mal ansatzweise gesprochen hatte, war die Unordnung, die Cecil Valance in ihren Kindern angerichtet hatte.
Sie wartete einen Moment, stand dann auf, holte ihre Handtasche und öffnete sie – darin steckte ein dicker brauner Umschlag, zerrissen und um ein Bündel Briefe gewickelt … Sie hätte es nicht ertragen, sie sich noch einmal anzusehen. Eigentlich hätte sie die Briefe gleich vernichten sollen, als sie sie fand, während des Krieges. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten – draußen hatte ein großes Feuer gebrannt, das ganze Herbstlaub, sie war hinausgegangen und hatte mit einer Forke darin herumgestochert, den grauroten flimmernden, schwelenden Kern freigelegt. Sie hätte den Umschlag, der wie ein gewöhnliches Päckchen aussah, hineinwerfen können, ohne dass eine Menschenseele davon erfahren oder sich daran gestört hätte. So hatte sie es George erzählt, aber in Wirklichkeit hatte sie die Briefe nicht verbrannt, weil sie es nicht konnte. Aus Ehrfurcht? Aberglaube? Es waren die Briefe eines Gentlemans – was für sich genommen nichts zu bedeuten hatte – und eines Dichters, was ihnen ein höheres Recht auf Unsterblichkeit verschaffte, aber auch das hätte sie nicht zu beeinflussen brauchen. Angewidert von ihrer anhaltenden Unentschlossenheit, zog sie das Bündel hervor, legte es auf die Frisierkommode und starrte es an. Cecil Valances nervöse Handschrift übte eine seltsame Wirkung auf sie aus, sogar jetzt noch; ein ganzes Jahr und noch länger hatte diese Schrift ihr Haus bestürmt und belagert, Briefe an George, Briefe an Daphne, und dann dieses verfluchte, verfluchte Gedicht, das besser niemals geschrieben worden wäre. Die Briefe an Daphne waren so prächtig, dass sie einem jungen Mädchen den Kopf verdrehen konnten, auch wenn Freda der Ton nicht gefiel; und sie sah, dass sie Daphne Angst machten und gleichermaßen begeisterten. Natürlich war das Mädchen überfordert mit einem sechs Jahre älteren Mann, andererseits war auch Cecil überfordert. Es war ein grässliches Getue in den Briefen, offenbar gab er dem armen Kind die Schuld für etwas, was eigentlich sein eigenes Versagen war. Dennoch hatte Freda ihn nicht davon abgehalten zu schreiben – und heute schien es ihr, als sei sie selbst damals auch überfordert gewesen. Aber wer weiß, vielleicht hätte sich ja auch alles zum Guten gewendet.
Es waren die Briefe an George – umgehend versteckt, vernichtet, wie die Familie glaubte, nur en passant erwähnt, »Ach, übrigens, ich soll euch von Cess grüßen!« –, die sich als Zeugnis des Unvorstellbaren und doch vage Befürchteten entpuppt hatten. In Georges Zimmer hatten sie gelegen, die ganze Zeit, während er in der Army war – »Spionage«, Planung und anderes, worüber er nicht sprechen durfte. Diese endlos langen Sommerabende auf Two Acres, nur sie und Daphne – manchmal hatte sie in den Zimmern der Jungen gestöbert, ihre alten Schulbücher aus den Regalen genommen, ihre unbenutzte Kleidung ausgebürstet, wieder zusammengefaltet, die Schubladen in dem kleinen Schreibtisch neben Georges Bett aufgeräumt, den kindischen Krimskrams, die Stapel Postkarten, die Briefe … Und noch jetzt, ohne die Briefe auch nur zu berühren, sah
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