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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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mutig gewordenen Louisa mit dem Fuß am Boden fixiert und einem agilen Sebby Stokes aus den Büschen geklaubt wurden. Ihr fiel wieder ein, was sie schon im mer gewusst hatte, nämlich, dass diese Briefe niemals herausgegeben werden durften, auch wenn dieses Bewusstsein durch die kurzlebige Vorstellung, sich ihrer zu erleichtern, etwas abgeschwächt wurde. Die Briefe gehörten George, und er sollte sie haben; doch sie ihm nach all der Zeit zurückzugeben hieße, ihm zu zeigen, dass etwas noch lebte, was er seit zehn Jahren für tot hielt.
    »Gut, ich gehe dann mal an die frische Luft, meine Liebe«, wiederholte sie. George und Madeleine waren wieder verschwunden. Mit Clara, die aufgrund ihrer schwierigen Lebensumstände eine gute Portion Weisheit angehäuft hatte, hätte sie über all das wahrscheinlich reden können, doch war es gerade diese Weisheit, die sie fürchtete – im Vergleich dazu hätte sie selbst ziemlich dumm dagestanden. Keinem anderen sonst konnte sie davon erzählen, weil kein Mensch ein Geheimnis für sich behalten konnte, und vor allem Daphne durfte nie davon erfahren. Jetzt kam Revel Ralph in Sicht, im Gespräch mit dem schottischen Jungen, der ihn offenbar zu dem ummauerten Garten führte. Er hatte sein Skizzenbuch dabei, und Freda war fasziniert von dem freundlichen und entspannten Umgang der beiden miteinander. Natürlich waren sie beide noch sehr jung, und Revel Ralph war alles andere als bieder. Sie verschwanden durch die Tür in der Mauer. Das Gefühl, dass alle anderen mit irgendetwas beschäftigt waren, machte sie ganz unruhig.
    Wieder zurück in ihrem eigenen Zimmer, setzte sie ihren Hut auf und verstaute die Briefe an einem sicheren Ort. Es war absurd, aber diese Briefe waren zu ihrem schuldbehafteten Geheimnis geworden, so wie sie einst Georges Geheimnis gewesen waren. Sie benutzte eine der Hintertreppen, was sich eigentlich nicht gehörte, aber lieber einem Hausmädchen begegnen als einem der anderen Gäste. Die Treppe führte zur Gentlemen’s Lobby, dahinter lagen das Raucherzimmer und eine kleine Tür nach draußen zur rückwärtigen Auffahrt. Sie schlich an der Hausseite entlang und um den französischen Garten herum, von dem sie bereits genug hatte. Es zog sie in den Wald, für eine halbe Stunde nur, vor dem Tee. Kaum eine Minute später stand sie unter schattigen Bäumen, großen Kastanien, die gerade anfingen zu blühen, und Linden, die winzige glitzernde, grüne Triebe hatten. Sie schob den Hut nach hinten und schaute nach oben, schwindlig vom Funkeln des Himmels zwischen den Blättern. Dann ging sie weiter, noch immer ungewöhnlich schnell, und schritt nach kurzer Zeit, schon fast außer Atem, über Zweige und Buchenmast.
    Sie sollte sich nicht zu weit vom Park entfernen, dachte sie, kehrte um, tauchte unter dem Waldrand hindurch und trat auf die offene Wiese des Parks. Ein langer weißer Zaun trennte den Park vom Hochplateau, und sie ließ sich so lange an ihm entlangtreiben, wie sie brauchte, um das heftige Dilemma, ob sie hinüberklettern sollte oder nicht, aufzulösen. Zunächst jedoch musste möglichst unauffällig geklärt werden, ob sie unbeobachtet war. Der Zaun bestand aus zwei schlanken, parallel verlaufenden Eisenrelings, die obere etwa auf Hüfthöhe, getragen von Pfosten mit abgeflachter Spitze im Abstand von etwa je zwei Metern. Nachdem sie sich ein zweites Mal umgeschaut hatte, raffte sie probehalber ihr Kleid, setzte einen Fuß auf die untere Stange, hielt sich mit der Hand an der oberen fest – aber wusste im selben Moment, dass sie es nicht schaffen würde, und ging gereizt und betont langsam zu dem weiter entfernt liegenden Tor.
    Das Hochplateau war gerade gemäht worden, und Freda hatte kaum das Tor hinter sich geschlossen, als auch schon grüne, feuchte Grashalme an ihren Schuhen klebten. George und Mad waren auch wieder da, querten die riesige Rasenflä che, die für sich genommen schon so groß wie Two Acres war, vom anderen Ende her. Ausgerechnet das, was sie hatte vermeiden wollen, lauerte nun auf sie; aber vielleicht war es ohnehin vergeblich, es vermeiden zu wollen. Die beiden blieben immer für sich, gingen allein spazieren, unterhielten sich allein. Freda hatte den Eindruck, dass sich niemand recht für sie zu interessieren schien, aber George war schon immer schüchtern und steif gewesen, bis Cecil – wieder mal Cecil – auf der Bildfläche erschienen war. Beim Lunch hatte sie ihren Sohn bewusst nicht angeschaut, weil sie wusste: Dieses

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