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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Wochenende musste ihm ausgesprochen unangenehm sein; erstaunlich, dass er überhaupt gekommen war. Obwohl: Wenn er Cecil wirklich geliebt hatte, auf welche Weise auch immer, dann … Sie sah seine Brillengläser im Sonnenlicht schimmern, die ausgeprägte, kahle Stirn; jetzt hatten er und Mad sie entdeckt und sagten etwas zueinander, dann winkte George. Freda lief einfach weiter, doch nein – sie sah die beiden viel zu selten …! Sie blieb stehen und hob eine schwarze Feder vom Boden auf, deren Spitze der Rasenmäher abgeschnitten hatte, dann drehte sie sich um und schlenderte den beiden mit einem Stirnrunzeln und einem Lächeln, mit hilflosen Seitenblicken und der Miene, als hätte sie eine witzige Bemerkung auf der Zunge, entgegen.
    Im Grunde wurde die Geschichte mit den Briefen allein durch ihr persönliches Schuldgefühl am Leben erhalten. Die meiste Zeit ruhte dieses Gefühl, es war leicht zu ignorieren, und es raubte ihr auch nicht den Schlaf, doch in Momenten wie diesen verbog sich alles, was sie zu George sagte, zu greller Unaufrichtigkeit. Sie hätte die Briefe niemals lesen sollen, doch nachdem sie sie entdeckt, den ersten noch mit dreister, aber zärtlicher Neugier aus seinem Umschlag gezogen und die erstaunliche erste Seite gelesen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Heute wunderte sie sich über ihre uner bittliche Neugier von damals, ihren Drang, noch das Schlimms te zu erfahren, wenn sie am liebsten überhaupt nichts von alldem gewusst hätte. Sie schaute hinüber zu George, der sie aus knapp fünfzig Metern Entfernung sanft anstrahlte, und dann sah sie ihn wieder vor sich an jenem Morgen, als sie ihn damit konfrontiert hatte. Er war in Uniform, trauerte um seinen Bruder, kämpfte in einem Krieg. Ihre eigene Trauer musste sie angestiftet, ihr die Erlaubnis gegeben haben. Und er hatte nicht gewusst, wie er sich verhalten sollte, genauso wenig wie sie: Er war wütend auf sie, wie nie zuvor, es seien private Briefe, sie habe kein Recht; gleichzeitig war er verstört vor Scham und Schreck, dass seine Mutter wusste, was vorgefallen war. »Es war alles vorbei«, sagte er – offensichtlich, denn Cecil war tot – »es war längst alles vorbei.« Und ehe der Krieg aus war, hatte er diesem langweiligen Blaustrumpf einen Antrag gemacht, sodass sie in ihren heimlichsten und traurigsten Mo menten das Gefühl beschlich, als habe sie ihren Sohn zu einem Leben in selbstlosem Elend verurteilt. »Hallo! Hallo!«, sagte George.
    Freda reckte das Kinn und grinste sie an.
    »Genießt du deinen Spaziergang, Mutter?«
    »Es ist herrlich.« Sie sah mit einem kecken Zwinkern zu ihnen auf, wie eine Mutter, die von ihren Kindern in den Schatten gestellt wurde.
    »Ich wusste gar nicht, dass du gerne spazieren gehst«, sagte Madeleine misstrauisch.
    »Du weißt so manches nicht, meine Liebe«, sagte sie und staunte über ihre eigenen Worte.
    »Hast du schon mit Sebby gesprochen?«, sagte George.
    »Ja, ja«, tat sie die Frage ab.
    »Alles gut?«
    »Ich hatte ja eigentlich nichts mitzuteilen.«
    George schürzte kurz auflachend die Lippen, und sein Blick ging hinaus in den Wald. »Nein, wohl nicht.« Und dann: »Gehst du zurück ins Haus?«
    »Ich könnte jetzt eine Tasse Tee vertragen.«
    »Wir kommen mit.«
    Sie gingen los, das Haus im Blick, und Freda kam es so vor, als überlegte sich jeder, was er dazu sagen könnte. Ihre Befangenheit bündelte sich in einer Stimmung latenter Zerstreuung und Sorge, doch eine geschlagene Minute sagte niemand ein Wort. Freda sah George an und fragte sich, ob der Vorfall von damals, der ihre Selbstbeherrschung so erschüttert hatte, ihm gleichermaßen gegenwärtig war wie ihr. In den neun Jahren seitdem war er kein einziges Mal erwähnt worden; verbindliches Ausweichen hatte den Anschein natürlicher Vergesslichkeit angenommen.
    »Hast du dir das Grabmal angesehen?«, sagte Madeleine, als sie durch das weiße Tor den Garten betraten.
    »Ach, das kenne ich schon«, antwortete Freda. Sie fand das Grabmal abscheulich, aus triftigen Gründen, die sie nicht erklären konnte.
    »Ziemlich prachtvoll, nicht?«
    »Ja, allerdings!«
    »Ich dachte gerade an den armen Huey«, sagte George und knüpfte damit wenigstens an ihre eigenen Gedanken an.
    »Oh, ja, ich weiß …«
    »Wir müssen mal hin, Darling«, sagte George und hakte sich bei seiner Mutter unter, was ihr wie eine außergewöhnliche Geste der Vergebung vorkam.
    »Nach Frankreich?«
    »Wir fahren noch in diesem Sommer, während der großen

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