Fremdes Licht
Doch bei dem Kichern krabbelte er
plötzlich mit einem Wutschrei auf die Füße und lief
hinter Ayrid her. Aber Ayrid war schon auf dem freien Grasstreifen
zwischen Lager und Mauer. Dahin traute er sich nicht, blieb stehen,
hob einen Stein auf und warf.
Der Stein traf Ayrid seitlich am Kopf. Sie taumelte benommen.
»Das ist die Stadt R’Frow…«
Aus einer anderen Richtung kam ein zweiter Stein geflogen. Er
verfehlte sie. Von irgendwo kam lauthals Protest. Einen Moment lang
konnte sie nichts sehen – durch den Schlag, vor Wut, wegen der
Düsternis, mit der sich Frühnacht ankündigte? Voraus
gähnte die Mauer.
Hinter ihr kam es zu einem lautstarken Handgemenge. Das Tor begann
schwach zu schimmern, als wolle es sich jeden Moment schließen.
Ayrid biß sich fest auf die Unterlippe; der Schmerz verhalf ihr
zu einem klaren Kopf.
Wer eintritt, wird ein fahr lang bleiben. Niemand, der
eintritt, wird R’Frow früher verlassen… Embri… am
Spieß wirst du rösten…
Ayrid lief durch die Mauer.
Nur wenige Schritte, und sie hatte den rechten Winkel des
Korridors erreicht. Der Korridor knickte nach links ab, nur um erneut
im rechten Winkel abzuknicken. Ayrid warf einen flüchtigen Blick
über die Schulter. Die Mauer hatte aufgehört, ihre
Botschaft zu wiederholen, und sich lautlos geschlossen. Doch das Licht… Bei geschlossenem Tor hätte es hier drinnen
finster sein müssen, denn es gab weder Lampen noch Feuer im
Korridor, und dennoch herrschte hier ein gleichmäßiges,
gedämpftes Licht, das von nirgendwo und überall zu kommen
schien.
Sie bemerkte, wie sie vor Angst zitterte; das war eine andere
Angst als die, die sie im Lager gelitten hatte. Das war nur die
Gefahr gewesen.
Der zweite rechte Winkel führte zu einem kleinen Raum aus dem
gleichen grauen Metall wie alles übrige. Ayrid trat über
die Schwelle, und die Wand schloß sich hinter ihr. Sie
kämpfte die Panik nieder und starrte geradeaus: die einzige
Unterbrechung in der gegenüberliegenden Wand war ein Bord, das
nahtlos aus dem blanken Metall sprang; darauf lag ein geschliffener
Edelstein.
Ayrid nahm ihn in die Hand. Es war ein Krigatt, ein seltener und
begehrter Stein. Er war zu einem langen Oval geschliffen und lag
kühl und schwer in der Hand. Das unerklärliche Licht
entlockte ihm blaue und violette Blitze. In Delysia war er ein
kleines Vermögen wert.
Genug, um das Stadtgericht zu bestechen?
Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um den Stein. Nein,
dafür war der Krigatt zu klein oder das Gericht zu groß.
Trotzdem, einen Augenblick lang war ihr, als hätten ihre
Füße kehrtgemacht, um zum Tor zurückzurennen, zu
Embri – bis sie nach unten blickte und sah, daß sie sich
nicht von der Stelle gerührt hatten. Ihr Blick glitt wieder die
Wand hinauf, und dann bemerkte sie zwei Vertiefungen über dem
Bord, die linke so oval und so groß wie der Krigatt.
Sie hielt den Edelstein hoch. Seine Facetten entsprachen genau den
Flächen in der ovalen Aussparung. Nach kurzem Zögern
plazierte Ayrid den Krigatt an der Wand. Das Material gab nach und
verschluckte den Edelstein. Die ovale Aussparung war spurlos
verschwunden.
Ayrid betastete die Stelle. Die Wand war so glatt und fugenlos,
als habe es da keine Aussparung gegeben. Genau wie die Graue Mauer draußen ließ sich auch diese Wand nicht direkt
berühren; auch sie schien mit einer klaren Schicht
überzogen, die ein bißchen unter den Fingern prickelte.
Ayrid schob ihre Finger in die andere Vertiefung, ein facettiertes
Rechteck; die Aussparung gab nicht nach. Ayrid trat zurück und
musterte die Wand eingehend. Nichts tat sich.
Minuten verstrichen. In dem kleinen Raum herrschte absolute
Stille. Nichts geschah. Schließlich setzte Ayrid sich verwirrt
auf den Boden.
War das die Prüfung gewesen? Und hatte sie sie bestanden oder
war sie durchgefallen? Die den Edelstein behalten und ihn mit nach
draußen ins Lager genommen hatten – sie hatten die
Prüfung bestimmt nicht bestanden, sonst wären sie drinnen
geblieben.
Aber hatte sie, Ayrid, nun bestanden oder nicht? Woher sollte sie
das wissen?
Sie wollte den Krigatt zurückhaben. Sie konnte sich damit
zwar nicht aus der Verbannung loskaufen, aber er würde sie reich
machen, reich… sie war ein Narr gewesen. Der Krigatt hatte so
schwer und kühl in der Hand gelegen, so schwer und kühl wie
die Doppelhelix, rotes und blaues Glas, lauter Splitter im Mondlicht
– »Noch einmal«, grollte die Wand sanft.
Ayrid sprang auf die Füße. Auf dem Metallbord
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