Fremdes Licht
Schamesröte ins Gesicht
getrieben hätte, obgleich die Delysier nicht gerade prüde
waren. Schließlich brachte der Boden die von seltsamen
Träumen Heimgesuchte zu einer winzigen, rechteckigen Kammer in
der östlichen Grenzmauer und deponierte sie dort.
Der Förderboden zog sich zurück, die Kammer
verschloß sich hermetisch, und Ayrid tauchte, eingefroren
zwischen zwei Atemzügen, in einen zeitlosen Schlaf.
6
»Fünfhundertundvierundachtzig«, sagte das
Bibliothekshirn laut.
Die drei Geds, die auf den Wandschirm starrten, nahmen die
Information wortlos auf. Der Schirm zeigte eine riesige Gestalt, die
im Testraum des zentralen Portals von R’Frow stand, durch das
bislang weder ›Jeliten‹ noch ›Delysier‹
eingetreten waren. Der Mann war so groß wie das Portal oder
anderthalb mal so groß wie andere Menschenwesen und doppelt so
groß wie ein Ged; in dem winzigen Raum mußte er den Kopf
einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Er war völlig
weiß. Farblose Haut, nicht einmal von der Sonne getönt;
Haar so weiß wie Frost, zu zehn dünnen Zöpfen
geflochten, die über die ausladenden Schultern fielen; die
Kleidung ausgebleicht und ohne Muster. Auch die Augen hatten keine
menschliche Farbe, bis auf den schwachen hellrosa Schimmer aus den
Blutgefäßen darin. Er war bei Dunkelheit zum Portal
gekommen. Er gab keinen Laut von sich.
»Eine verwandte Spezies?« fragte ein Ged. Er sagte das
mit dem Gehabe einer wilden Spekulation. Keiner von ihnen hatte
bislang so ein Menschenwesen zu Gesicht bekommen.
»Vielleicht. In uns singt die Harmonie.«
»In uns singt die Harmonie.«
»Möge sie immer singen.«
»Sie wird auf immer singen.«
Die drei Geds rückten enger zusammen, die Hände auf des
anderen Rücken, Hals und Beinen. Ihre Pheromone rochen nach
Ungewißheit.
Der weiße Riese preßte den Feuerstein in die
rechteckige Aussparung. Zylindrische Stäbe klapperten und
klirrten auf den Boden.
»Sollen wir das Menschenwesen zulassen, oder sollen wir es
direkt zur Biologie überstellen? Ich bin mir nicht
sicher.«
»In uns singt die Harmonie«, murmelten die beiden
anderen.
Das Bibliothekshirn grollte samtweich: »Laßt es nach
R’Frow, obwohl es an Lautmustern fehlt für eine
hinreichende Sprachanalyse. Die Verständigung mit ihm wird
vorerst primitiv sein. Inwieweit es zur Lösung des Zentralen
Widerspruchs beiträgt, ist noch unklar.«
Für keinen der Geds kam die Antwort überraschend; sie
hatten nichts anderes erwartet. Geds hatten das Bibliothekshirn
geschaffen, Geds hatten es programmiert.
Der riesige Albino ignorierte die zylindrischen Stäbe und hob
das Messer auf. Er probierte es an seinem Finger aus. Ein
Blutstropfen quoll aus dem verhornten Weiß.
Die drei Geds sahen ausdruckslos zu.
7
Sowie Jehanna aufwachte, fuhr ihre Hand an den Gürtel. Das
phantastische, fremde Messer war noch da, auch ihr eigenes und die
gedrungene dunkle Keule. Vielleicht hätte sie die Keule nicht an
sich nehmen sollen; sie hatte keinen Handgriff und war zu kurz, um
wirklich etwas ausrichten zu können, wenngleich sie gut
ausgewogen war. Die Meisterkrieger von R’Frow – waren sie
vielleicht von ganz kleiner Statur, wenn sie so kurze Keulen
benutzten? Doch das Messer hatte eine normale Größe, und
kurze Meisterkrieger, die Vorstellung war einfach lächerlich.
Schlechtes Hebelspiel. Außerdem war das eine lächerliche
Prüfung gewesen – das konnte jeder, sich die besten Waffen
herausgreifen, eine für jede Hand, aus diesem dürftigen
Sortiment. Lächerlich!
Das alles dachte und empfand Jehanna in ein und demselben
Augenblick, als sie die Augen aufschlug und sich umsah.
Sie lag in einer schmalen Nische, die nach einer Seite hin offen
war. Sie musterte den Raum, soweit sie ihn einsehen konnte, schwang
die langen Beine heraus und sprang leichtfüßig und mit
gezücktem Messer auf den Boden. Das Licht war ziemlich
trübe. Doch die Leute, die aus den anderen Nischen kletterten,
schienen allesamt Jeliten zu sein. Jehanna nahm sie in Augenschein
und erlitt einen gelinden Schock: nicht alle waren Krieger. Wie war
das möglich? Meisterkrieger gaben sich nie mit Bürgern ab,
und manche von diesen Bürgern waren kaum den Griff zur Waffe
wert. Da stand ein Töpfer, nach seinem Tebel zu urteilen ein
Handwerker, der nicht einmal für einen Kader arbeitete; da war
ein dünnbeiniger Junge mit den Schultern einer Besenpuppe; da
eine…
Eine Hure. Hinter der Grauen Mauer – eine Hure! Das
war nicht
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