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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Spätlicht öffnete sich das Tor noch
neunmal. Ayrid sah jedesmal zu. Viermal wurden Lose aufgerufen, und
niemand ging durch das Tor. Dreimal gingen Delysier hinein und kamen
eine Stunde später wieder heraus: zwei trugen Edelsteine bei
sich, mit denen man ein Haus im wohlhabendsten Viertel von Delysia
kaufen konnte, einer kam stammelnd und mit leeren Händen
zurück. Und zweimal gingen Delysier hinein und kamen
überhaupt nicht zurück.
    Einer von ihnen war der helläugige Soldat, der ihr das Los
besorgt hatte.
    Ayrid stellte aufs Geratewohl Fragen. So erfuhr sie, daß die
Mauer erst vor drei Zehnzyklen damit begonnen hatte, zu sprechen und
sich zu öffnen, lange nachdem man sich hier niedergelassen
hatte. Weder Feuer, noch Werkzeuge, noch Säure konnten der Mauer
etwas anhaben – das alles hatte man ausprobiert. Ein paar
Delysier, so erfuhr sie, häuften unglaubliche Reichtümer
an, indem sie wiederholt durch die Mauer gingen. Die Jeliten bekamen
angeblich mehr Edelsteine; die Jeliten bekamen angeblich
überhaupt keine Edelsteine, statt dessen aber Waffen mit
magischen Kräften und von ebensolcher Schnelligkeit; die Jeliten
bekamen angeblich gar nichts. Man wollte wissen, daß es in
Wahrheit gar keine Prüfung gab, oder daß es eine
Prüfung für Narren war, damit sie nicht blindlings an den
Edelsteinen vorbeiliefen, oder daß die, die nicht mehr
zurückkamen, bei der Prüfung getötet und hungrigen
Ungeheuern zum Fraß vorgeworfen wurden, oder daß die
Prüfung eine Geisterbrücke zur Insel der Toten war.
    Erst dachte Ayrid, daß nur die Besten von den Delysiern, die
sich durch das Tor trauten – also jene mit Verstand und Mut,
solche, die ohne Furcht und Tadel waren –, daß sie
diejenigen waren, die drinnen bleiben durften. Bleiben, wozu? Und
warum? Und dann hörte sie, daß Männer oder Frauen
– welche, die nicht bis drei zählen konnten oder die
über Leichen gingen – daß sie in R’Frow
verschwunden waren, während andere, standhafte und tapfere,
wieder zurückgekommen waren. Hinter alledem schien weder
Vernunft noch Verstand zu walten.
    »Ich kaufe dir das Los ab«, sagte ein Mann. Er war alt
und gebeugt und sah Ayrid aus listigen, verzweifelten Augen an.
Vorhin war seine Losnummer aufgerufen worden, und er war nicht
gegangen.
    »Nein.«
    »Zehn Habrin.«
    »Nein.«
    »Zwanzig.«
    »Nein!«
    Der Mann starrte sie an, und dann fing er an zu weinen. Er weinte
lautlos, ohne sein Gesicht zu verziehen oder sich zu rühren; die
Tränen rannen durch den Staub auf seinem Gesicht. Sie konnte das
nicht mitansehen und wandte sich ab. In ihr Mitleid mischte sich
Verachtung; sie hatte nicht einmal wegen Embri geweint.
    Embri…
    Ayrid zwang sich zu gehen: quer über den Markt, durch das
Lager. Spät erst bemerkte sie, daß der Mann ihr
folgte.
    Angst beschleunigte ihre Schritte. Sie eilte auf den Markt
zurück, als sich das Tor wieder in nichts auflöste.
    »Das ist die Stadt R’Frow. Ihr wollt eintreten. Nur ein
Menschenwesen kann jetzt durch dieses Tor gehen. Ihr werdet
geprüft. Wer die Prüfung besteht, kann R’Frow
betreten. Wer eintritt, wird ein Jahr lang bleiben. Niemand, der
eintritt, wird R’Frow früher verlassen. Jeder, der
R’Frow betritt, bekommt Edelsteine, neue Waffen und neues Wissen
geschenkt. So spricht die Stadt R’Frow.«
    Die Bril kreischte: »Zweihundertundsechs!« Dabei wedelte
sie hoch über ihrem Kopf mit einem Stein. Das war Ayrids
Nummer.
    »Bitte!« bettelte der Mann. »Verkauf mir dein Los!
Bitte!«
    Ayrid duckte sich in die Herberge und packte ihren Sack. Als sie
wieder ins Freie trat, lief der Mann neben ihr her, so dicht,
daß sie seinen stinkenden Atem an der Wange spürte.
»Bitte, Handwerker, bitte, verkauf mir dein Los! Dreißig
Habrin! Vierzig!«
    Als Ayrid nicht antwortete, schlug sein Gewinsel in ein
bösartiges Zischeln um. »Du weißt ja nicht, worauf du
dich da einläßt. Lebendig kommst du da nie wieder raus
– nie und nimmer! Am Spieß wirst du rösten, man wird
dein Blut trinken, wie es die Kriegerpriester tun, vergewaltigen wird
man dich, du Hure! Nie wieder kommst du da raus, hörst du? Du
hast ja keine Ahnung, was du riskierst!«
    Ayrid blieb plötzlich stehen, setzte ihm die leere
Handfläche auf die Brust und stieß kräftig zu. Er
fiel rücklings in den Staub, das zerfurchte Gesicht eine einzige
Miene der Verblüffung.
    »Ich riskiere gar nichts«, sagte Ayrid kalt. »Ich
habe nichts zu verlieren.«
    Eine Frau kicherte.
    Der Alte lag blinzelnd am Boden.

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