Fremdes Licht
»Vielleicht ist es vergiftet, vielleicht
ist es vergiftet, viel…«
Mit zwei ausholenden Schritten war der lange Soldat bei ihr und
hielt ihr den Mund zu. Er war nicht grob zu ihr, aber er starrte der
Frau aus nächster Nähe in die Augen und sagte etwas, das
Ayrid nicht hören konnte. Die Frau beruhigte sich, doch
inzwischen schwirrte die Halle vor erregten und ängstlichen
Stimmen. Khalid T’Alira drehte sich um und ließ den Blick
über die Leute schweifen.
»Delysier! Diese Frau hier hat bloß Angst.
Überlegt nur – wenn uns die Geds umbringen wollten,
hätten sie dann bis jetzt damit gewartet? In den Schüsseln
ist Nahrung. Ich habe davon gegessen – sie schmeckt nicht
schlecht. Habt ihr immer noch Angst? Dann behaltet mich im Auge und
wartet ab, dann wißt ihr, welche Wirkung das Essen hat. Habt
ihr Hunger? Dann eßt und geht auf eure Zimmer und haltet einen
Verdauungsschlaf. Oder schwirrt euch nur der Kopf? Seht doch, wir
werden bewirtet, als hätten wir das Gesinde von Delysia
dabei.«
»Oder abgefüttert wie Stallvieh«, sagte Kelovar. Er
hatte steile Falten zwischen den Brauen, und Ayrid verstand nicht,
warum er Khalid so mißtrauisch beobachtete. »Iß
nicht davon, Ayrid.«
Ein klein wenig spöttisch sagte sie: »Hast du was
Besseres?«
»Wir können auf die Jagd gehen.«
»Nun hör aber auf, Kelovar. Selbst wenn es in
R’Frow Tiere gibt, dann reichen die nicht für alle,
geschweige denn für ein ganzes Jahr.«
Er ließ sich nicht auf eine Diskussion ein. »Erst
Wachen einteilen. Dann auf die Jagd gehen. Und rühr mir das Zeug
nicht an.«
Ayrid beugte sich über das nächstbeste Tischchen,
fischte gezielt einen Happen aus der Schüssel, hob ihn unter die
Nase und schnupperte daran. Das bräunliche tropfende Zeug war
fast geruchlos und nicht zu identifizieren. Die bräunliche
Soße, die ihr über die Finger lief, war genauso geruchlos
und genausowenig zu identifizieren. Sie steckte sich den Happen in
den Mund und begann zu kauen. Obwohl das Zeug nach nichts schmeckte,
lief ihr sofort das Wasser im Mund zusammen; gierig schlang sie den
Happen hinunter und langte nach dem nächsten; sie sah nicht auf,
als Kelovar zornig vorbeistiefelte und auf den Torbogen
zusteuerte.
Die Frau mit der zaghaften Stimme kniete sich zu ihr.
»Schmeckt es gut?«
»Besser als Hunger«, sagte Ayrid ungewollt schroff.
»Wer ist Khalid T’Alira? Das ist der erste Name
mütterlicherseits, der mir hier draußen begegnet
ist.«
Die Frau ging nicht auf den Namen ein. »Er ist Hauptmann
– er war Hauptmann der Stadtgerichtwache in Delysia.«
Ayrid hörte auf zu kauen.
»Ich weiß nicht, warum er Delysia verlassen hat. Aber
er muß hier zu sagen haben; irgendeiner hat gesagt, daß
er die Wachen einteilt. Ich heiße Krijin. Ich bin
Gemmenschnitzer.«
»Ayrid, Glasbläser.« Sie nannte nicht ihren Namen
mütterlicherseits, und Krijin fragte auch nicht danach.
»Wie schmeckt es?«
Plötzlich tauchte ein Mann im Torbogen auf, die Augen weit
aufgerissen. »Frühnacht bricht herein!«
Stille. Eine zähe Stille, wie wenn Glas in der Schwebe
bleibt, bevor es am Boden zersplittert. Ayrid ertappte sich dabei,
wie sie die Augen zudrückte. Nur das nicht. Nicht noch mehr
Wunder. Nur das nicht. Und als sie die Augen wieder aufschlug,
zersplitterte das Glas am Boden, und jener Tumult, den Khalid durch
seine Ansprache abgewendet hatte, brach wieder aus und war nicht mehr
einzudämmen.
Schnatternd, stoßend und schreiend drängten sie durch
den Torbogen nach draußen, um in den Himmel zu starren. Es
wurde rasch dunkel: Frühnacht ohne den Rest von Frühmorgen,
ohne Finstertag und ohne Spätlicht. Unmöglich, Unsinn, der
jüngste Irrsinn in einer ganzen Strähne von
Irrsinnigkeiten, und die Leute begannen zu lamentieren, daß
R’Frow eine Stadt des Todes sei, daß sie alle miteinander
sterben würden, daß man vielleicht längst tot sei.
Jemand fing an zu kreischen und wollte nicht mehr aufhören
damit, und ein Mann schlug mit dem Kopf gegen einen Baum, immer und
immer wieder.
Und mitten unter ihnen schwang sich Khalid T’Alira auf einen
gemaserten Felsblock und erhob seine Stimme über das Chaos.
»Delysier!« rief er, und seine Stimme fand Gehör.
Ayrid, die dabei war, sich einen Weg zurück in die Halle zu
bahnen, drehte den Kopf; in der Stimme dieses Mannes lag
Autorität, sie heischte Respekt. Er ließ seinen Blick
über die von Angst gepeitschte Menge schweifen, kein
Zögern, keine Unsicherheit in dieser
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