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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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zwei Augen, war
jemand, den sie kannte unter all den Unbekannten, der einzige Halt in
diesem formlosen Nichts. Der fremde Sarg hatte ihr den letzten Rest
an Kraft aus dem Leib gesogen, und für diese Nacht hatte sie die
Nase voll vom Nichts.
    Ayrid drückte das Licht an und zog Kelovar in ihr Zimmer.
    Und der Kreis an der Wand glühte weiter, auch später im
Dunklen – wie ein wachsames Auge.

 
10
     
    Auf der anderen Seite von R’Frow, im jelitischen Reservat,
saß auf einem Kissen, den Rücken an der Metallwand, die
Hure. Sie war allein; über die schmalen Schultern und winzigen
Brüste floß ungehemmt das schwarze Haar. Als sie sich
vorbeugte, so weit vornüber wie sie konnte, fiel es wie ein
schwarzer Wasserfall auf den Boden.
    SaSa spreizte die Beine weit auseinander, spannte erst die weiche
Haut ihrer rechten Leiste auseinander, um sie zu beäugen, dann
die ihrer linken Leiste. Nichts. So oft sie auch nachsah, sie fand
keine Entzündungen. Sie waren nicht wiedergekommen. Sie waren
fortgewesen, als sie zusammen mit den anderen in ihrer Wandnische
aufgewacht war. Die nässenden Entzündungen waren
verschwunden.
    Aber das war unmöglich.
    Aber sie waren fort.
    SaSa wimmerte leise. Ihre Mutter war Hure gewesen; aufgewachsen
war SaSa in der Gasse hinter der Halle der Bruderkrieger in Jela, und
sie wußte, daß die nässenden Entzündungen der
Hurenfäule nicht mehr weggingen. Sie wurden dicker und breiteten
sich aus, so wie sie sich auf ihrer Mutter ausgebreitet hatten, so
daß man sie eines Dreitags aus der Gasse geschafft hatte; am
übernächsten Dreitag hatte sie nach faulendem Fleisch
gestunken und qualvoll gejammert, und am vierten Dreitag war sie
gestorben. SaSa hatte die Leiche eigenhändig zum Bestattungsofen
gebracht, hatte sie in einen Burnus gewickelt und sie durch die
Straßen geschleift; SaSa war noch so winzig gewesen, daß
sie nicht einmal einen so abgezehrten Leib tragen konnte, und das
Pflaster hatte den Burnus durchgescheuert, so daß ihre Mutter
die Reise zur Insel der Toten mit rohem und blutigem Gesäß
und nach Verwesung stinkend angetreten hatte.
    SaSa wußte, was jede Hure wußte. Die juckenden und
schmerzenden Male der Hurenfäule gingen nie mehr fort.
    Ihre waren fort.
    Sie beschnupperte sich. Das Sperma des letzten Bruderkriegers,
ihre eigenen Säfte – und mehr nicht. Keine Fäule mehr,
seit sie an diesem Ort aus hartem Metall erwacht war, zu dem sie
geflohen war, um nicht wie ihre Mutter eine blutige und stinkende
Spur auf einem Pflaster zu hinterlassen, das von Bruderkriegern
begangen wurde. Da wollte sie lieber durch eine Stadt der Toten geschleift werden.
    Doch die entzündeten Stellen waren nicht mehr da.
    Schläge trafen die Tür. Die Hure hob den Kopf, die
schwarzen Augen stumpf wie dunkles Glas, ausdruckslos das Gesicht.
Immerfort Schläge, lauter jetzt. Sie hielt sich die Ohren zu,
sie drückte sie ganz fest zu, doch trotz dieser heftigen
Reaktion blieben ihre Augen leer; darin war weder Furcht noch Zorn zu
lesen; sie verrieten nichts.

 
11
     
    Das Bibliothekshirn sprach zunächst in der Diktion
empirischer Daten und dann in der Diktion einer von Fakten
flankierten Hypothese:
    »Die biologische Untersuchung hat ergeben, daß die
generativen Zellen des pigmentlosen, menschlichen Riesen genetisch
deformiert sind; eine sexuelle Reproduktion ist nicht möglich.
Sein Stimmapparat ist deformiert; Sprechen ist nicht möglich.
Blut und Organismus sind radioaktiv verseucht, Meßwerte
schwankend zwischen elf und sechzehn Einheiten, Kontamination dritten
Grades.
    Die biologischen Deformationen und die gemessene
Radioaktivität singen in Harmonie mit der Radioaktivität,
die auf der zweiten Landmasse dieses Planeten entdeckt wurde, jener
Insel, die achtzig Orf vor der bewohnten Küste dieses Kontinents
liegt. Dieses Menschenwesen stammt wahrscheinlich von dort.
    Schattenseite: Auch ein Menschenwesen muß einen Grund haben,
um allein und in einem zerbrechlichen Boot so weit von seiner
Paarungsgruppe fortzusegeln. Außerhalb des Projekts bevorzugen
›Delysier‹ wie ›Jeliten‹ immer die Gesellschaft
von Menschenwesen ihrer Stammgruppe.
    Schattenseite: Kein Menschenwesen hat jemals andere Menschenwesen
erwähnt, die auf irgendeiner anderen Insel leben, oder irgendein
technologisch realisierbares Boot, das so weit gesegelt ist.
    Sonnenseite: Die Menschenwesen sprechen von der Insel der Toten oder der Toteninsel. Die meisten dieser Sprachbelege
scheinen die gleiche Diktion zu haben,

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