Fremdes Licht
Hände über die
Brust hob und sich mit allen zehn Fingern auf die Brust tippte; dann
schien er ganz rasch etwas Unsichtbares zu befingern, das zwischen
seinen Händen saß, so als wolle er es dadurch sichtbar
machen…
»Ich kann ihn nicht verstehen«, sagte Ayrid. »Ist
das ein Fingerspiel?«
Die schweren Hände fielen wieder auf die Kissen zurück.
Der Barbar starrte sie aus schillernden Teichen voller Kummer an.
Ayrid war, als läge zwischen ihm und ihr ein gähnender
Abgrund, den nur er sehen konnte. Noch einmal rang er sich die Geste
ab, die so aussah, als steige etwas in hohem Bogen empor…
Plötzlich rang der Riese nach Luft, bäumte sich mit
hervorquellenden Augen und qualverzerrtem Gesicht auf und griff
verzweifelt ins Leere. Dann sackte er auf die Kissen zurück,
schloß die Augen und begann in flachen, keuchenden Zügen
zu atmen, ganz anders als vorhin, bevor er versucht hatte, ihr etwas
mitzuteilen…
»Ich gehe jetzt und besorge irgendeine Arznei«, sagte
Ayrid entschlossen. »Hörst du, SaSa. Er braucht
Medizin.«
»Nein!«
»Doch! Er braucht unbedingt einen Heiler, oder er stirbt.
Keinen Kriegerpriester, ich hole keinen Kriegerpriester.« Wie
hätte sie auch? Aber wieso hatte das Kind einen solchen
Haß auf die Jeliten? Was hatten sie ihr angetan? »Ich
frage Grax oder einen anderen Ged. Du hast doch selbst gehört,
was wir im Unterricht machen. Sie bringen uns bei, was Krankheit ist,
woraus das Blut besteht und was…«
SaSa hörte ihr nicht mehr zu. Wahrscheinlich hatte sie auch
im Unterricht nicht hingehört, als es um die Bakterien gegangen
war, diese winzigkleinen, tödlichen Wundertierchen. Der einzige,
der wirklich mitmachte, war Dahar. Ayrid sah ihn vor sich, wie er
sich über das Vergrößerungsgerät beugte, das
dunkle, grob geschnittene Gesicht feurig vor Erregung, und sie sah
auch den leeren Platz vor sich, auf dem er an diesem Vormittag
hätte sitzen müssen. Vormittag? Welche Tageszeit war jetzt?
Wenn der Unterricht vorbei war, waren die Geds längst wieder in
der Grauen Mauer verschwunden.
»Ich hole Grax. Oder einen delysischen Heiler, einen
wie…«
»Nein!« schrie SaSa und schlug plötzlich die
Hände an die Ohren und preßte so fest zu, als wolle sie
irgendein Geräusch im Kopf ersticken. »Nein, nein,
nein!«
»Dann nicht. Pscht, SaSa, du erschreckst deinen kranken
Liebling.« Doch der Barbar lag völlig apathisch da, wie
jemand, der nichts mehr hört und sieht. Er atmete noch, aber nur
leise und unregelmäßig. »Ruhig, SaSa, niemand kommt
her, wenn du nicht willst…«
Jemand pochte an die Tür.
SaSa erstarrte. Ayrids Blick flog zur Tür.
»Bitte öffnen. Bitte öffnen.«
Ayrid atmete auf. »Ein Ged, SaSa. Er kann uns helfen!«
Sie sprang auf.
SaSa kam ihr zuvor, lehnte sich mit dem Rücken an die
Tür und spreizte die dünnen Arme gegen das Metall, die
Augen funkelten, der Lichtkreis an der Wand färbte eine Wange
fahlgelb.
»Draußen ist ein Ged, SaSa. Er kann helfen!«
»Nein!«
»Ohne Medizin…«
»Nein!«
»Bitte öffnen.«
Ayrid stand da, hilflos und bekümmert, wußte nicht, was
sie tun sollte. SaSa preßte die kleinen Handflächen gegen
das Metall. Auf den Kissen lag der Riese, sein Brustkorb begann
heftig zu pumpen…
Da wurde SaSa, obwohl sie sich aus Leibeskräften gegen die
Tür stemmte, wie eine Puppe ins Zimmer geschoben. Grax, einen
orangeroten Streifen um den Daumen gewickelt, trat über die
Schwelle, gefolgt von Dahar.
Ayrid stockte der Atem. Dahars Gesicht war von Erschöpfung
gezeichnet, ein grimmiger Zug lag um seinen Mund, und in seinen Augen
stand ein Ausdruck, den sie dort noch nie gesehen hatte – sie
schienen zu fiebern vor Angst, aber es war keine Angst, es war etwas,
für das sie keinen Namen hatte. Als er sie sah, blieb er stehen.
Sein Tebel war naß und verdreckt und voller braunroter
Sprenkel.
»Wir müssen ihn zur Stadtmauer tragen«, sagte
Grax.
Er meinte den Barbaren und redete mit SaSa. Einen Moment lang
dachte Ayrid, das Mädchen würde sich über den Riesen
werfen, doch als Grax zum Lager des Kranken ging, gab SaSa sich
geschlagen. Ihre Züge schienen vor Elend zu zerbröseln, der
kleine Leib schien sich in sich selbst zu verkriechen. Angesichts
dieser herzzerreißenden Kapitulation nahm Ayrid sie in die Arme
und drückte sie an sich. Ihr war, als tröste sie ein
Kind.
»SaSa, Grax hat recht, dein Liebling muß zur Stadtmauer
– die Geds können ihm helfen, sie haben Apparate und
Arzneien.« Sie wandte sich an
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