Fremdkörper
hahaaa! – hab ich ja schon. Hm ... Galgenhumor gegen sich breitmachende Unruhe, der allerdings gerade überhaupt nicht gegen sich im Hals breitmachende Klöße hilft. Ich lege das Handy auf den Tisch. Und zwar schön mit dem Display nach unten. Das ist eine Macke. So kann ich mich besser vor dem »Auge« meines Telefons verstecken. Danach ist mir gerade sehr. Schon wieder. Ich fühle mich beobachtet. Dabei bin ich zu Hause. In der Küche. An meinem Lieblingsplatz. Mir ist unwohl zumute, weil der Telefonterror das klargemacht hat, was ich eigentlich schon längst hätte kapiert haben müssen. Nämlich, dass jetzt alle Bescheid wissen. Alle ... Leute, die ich mag und die ich weniger mag. Freunde, Nicht-Freunde, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ex-Liebhaber, die mir in Gedanken immer noch auf die Schulter klopfen, weil die Trennung so harmonisch war. Und die anderen auch. Die nörgeligen Nachbarn meiner Eltern genauso wie die Kommilitonen meiner Geschwister. Ich habe keinen Einfluss darauf. Ich finde das nicht fair. Aber um Fairness darf ich in diesem Spiel nicht bitten. Schon klar. Ich spule mir die Nachrichten noch einmal im Kopf und vor meinem geistigen Ohr ab. Dabei wird schnell deutlich, dass es für mich definitiv eine ganz wichtige Aufgabe gibt in den nächsten Tagen. Und die wäre: mein Adressbuch aufzuräumen. Aufräumen nicht im Sinne von Unordentliches ordnen. Nein, Aufräumen in bester Schwiegermama-Manier: Wegschmeißen. Ich muss in diesen Stunden ganz schnell lernen, was ich ehrlicherweise bisher überhaupt nicht gut konnte. Was ich mir nie gestattet habe. Wovon ich glaubte, dass es keiner verdient hätte. Und dass es unangebracht wäre. Ich muss lernen, Menschen auch mal nicht zu mögen. Das hört sich so leicht an. Für mich ein kleiner, feiner Akt der Unmöglichkeit. Wie soll das gehen? Leute doof finden. So sehr, dass ich nichts mehr mit ihnen werde zu tun haben wollen. Widerstrebt mir sehr. Das hat natürlich einen Grund und der liegt irgendwo in einer vorpubertären Erziehungseinheit. Ich bin groß geworden mit einem homophilen Menschenbild, das besagt: Jeder trägt etwas Gutes an und in sich. Und Macken sind, wenn nicht entschuld-, so aber zumindest seit Sigmund Freud irgendwie erklärbar. Jeder hat Fehler. Ich, zum Beispiel, kann in der Sache mit einer vorzeigbaren Summe aufwarten. Meine Freunde halten einiges aus. Aber auch ich bemühe mich. Ich habe immer versucht, das zu sehen, was unter der über Jahre gewachsenen Kruste aus Ego, Angst oder Selbstzweifeln liegt. Eigentlich ein Wesenszug, den ich an mir mag. Der aber zurzeit nicht gebraucht wird. Denn wenn mich zu viele gute Bekannte, entfernte Kollegen oder gar Fremde mit gewaltsamen Einbrüchen in meine Privatsphäre bedrohen, dann tausche ich eben die Schließmechanismen aus. Und den neuen Schlüssel bekommen nur wenige. So. Ich lerne also, mich zu trennen. Anfangs fällt es mir schwer, später hat es fast etwas Befreiendes, die unnötigen Kontaktkoordinaten meines Computers und auch des Telefons in den Orbit des universellen Datenmülleimers zu schicken. Stolz sehe ich mir meinen keimfreien Kommunikationskasten an. »In ist, wer drin ist.« Die Menschen auf meiner Speicherkarte sind in meinem Leben sehr angesagt – und die werden so schnell nicht aus der Mode kommen. Das wiederum weiß ich sehr genau.
Ein erstes Häkchen an meiner inneren To-do-Liste. Ich blicke auf den nächsten Punkt: Rückrufe. Auf dem Zettel vor mir habe ich, also known as Käpt’n Pflichtbewusst, die Namen derer notiert, die mich um eine Meldung gebeten haben. Oder die ich gerne in einer ruhigen Minute sprechen würde. Die Hälfte davon ist bereits hinfällig, bevor ich mit dem Abarbeiten der Namen begonnen habe. Denn: Es gibt sie ja nicht mehr in meinem Adressbuch. Seit eben. Wohltuend. Wegstreichen von einer Liste ist mindestens so befriedigend wie Löschen. Das, was übrig bleibt, ist überschaubar – und Inhalt der zweiten Lektion dieses Tages. Normalerweise hätte ich eine weitere Stunde damit zugebracht, all die auf Meldung wartenden mit einem freundlichen Anruf und einem noch freundlicheren Gespräch, von der Plauderei bis ans Eingemachte, zu bedenken. Ich denke kurz daran. Und es sträubt sich alles in mir. Wieder und wieder dieselbe Geschichte erzählen. Immer wieder: »Ach, wie schrecklich«, zu hören, macht es nicht weniger schrecklich für mich. Also gönne ich mir Aufschub, verordne mir eine Sprechpause und den anderen zwangsläufig eine Wartezeit. So
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