Fremdkörper
Abschweifungen dem Verständnis der Handlung keinen Abbruch).
In den Pakt mit mir selbst packe ich noch ein paar Punkte: »No more Erklärungen. No more Ungeduld. No more Druck.« Etwas mehr Reggae-Mentalität stünde mir gut zu Gesicht. Ein Leben in grün, gelb, rot. Peace. Also: (so weit es möglich ist) nur noch Spaß-Sachen machen. Keine Kompromisse mit der eigenen Lust und Leidenschaft. Das klingt für mich nach einem prima Konzeptpapier für den Relaunch des Projekts Leben. Auch wenn es gar keine echte Pilotierungsphase zum Testen und Verbessern gibt. Denn: Die Produktion läuft bereits. Und muss am Laufen gehalten werden.
14.
Bewegung, um was zu bewegen
Mit Bleistift und Radiergummi in der Hand stehe ich im Türrahmen zu unserem Wohnzimmer. Das Gesicht zum Holz. Ich markiere mit einem Strich, wie weit ich meinen Arm schon wieder heben kann. Seitlich und vor dem Körper. Jeden Tag ein bisschen höher. Nachdem mir meine Ärztin durchaus glaubhaft versichert hat, dass selbst durch intensive Krankengymnastik (Streberin, ich) keine Narbe platzt oder innere Nähte reißen, trainiere ich den Bewegungsradius des Arms nämlich bis zur Schmerz- und Elastizitätsgrenze. Was die Maßnahmen zur Wiederherstellung meines Originalzustandes angeht, will ich extrem diszipliniert sein. Was mir – wie schon beschrieben – ganz und gar nicht fremd, sondern zutiefst zu eigen ist: die Disziplin. Bis vor nicht allzu langer Zeit war Disziplin sogar ein dermaßen wichtiger und pompöser Bestandteil meines Alltags, dass es für die Menschen um mich, und den einen natürlich besonders, äußerst mühsam gewesen sein dürfte. Disziplin in Sachen Arbeit, Ordnung, Sport, Ernährung. Gerne im Doppelpack mit einer außerordentlich ausgeprägten Form von Perfektionismus.
Bis zu einem Schlüsselmoment vor einigen Monaten. Ein Sonntagabend, nach einer sehr auslaugenden 7-Tage/70-Stunden-Woche. Sinnvoll gewesen wäre: im Nacken ein Kissen, unterm Po die Couch, in der rechten Hand ein Glas Rotwein, in der linken die des Liebsten. Ich hatte: im Nacken Verspannungen, Hummeln im Hintern, in der rechten Hand einen Putzlappen, in der linken den Schmutzwassereimer. In diesem Paradies für Frau Pril hatte ich meine Wachküssung. Wie körniger Schlaf aus den müden Augen fiel es mir: Dieser Drang, ständig in Aktion, noch machen müssen, erledigen, abhaken, das hat etwas höchst Pathologisches. Und der Handlungsbedarf ist längst überfällig. Ich sollte um meiner selbst willen (und auch dem Umfeld zuliebe) schleunigst etwas ändern. Entschleunigen. Und trainieren: nämlich das Nichtfunktionieren. Wohldosierte und wohltuende Disziplinlosigkeit. Süßer Müßiggang, gepflegte Langeweile, kultivierte Faulheit als Kraftquell. Das fiel mir, ehrlich gesagt, überhaupt nicht leicht. Und es hat auch einige Monate (!) gedauert, bis ich mich im Angesicht von Staubfahnen und jämmerlich verendeten Fliegen unterm Sofa auf selbiges drauflegen konnte, um die Fernbedienung und nicht den Feudel in die Hand zu nehmen. Auch heute muss ich mich ab und zu selbst auffordern, die zum Beispiel zur keimfreien Hygiene mahnenden Stimmen in mir einfach zu überhören. Desinfektionsmittel aller Länder vereinigt euch? Gerne, aber ohne meines. Das funktioniert. Ich habe meine Krümel-Toleranzgrenze nach oben verschoben. Und werde peu à peu besser darin. »Locker machen, Mädchen«. gilt eben auch hier.
Ausnahmen bestätigen bekanntlich ins Herz geschlossene Regeln. Und diese Ausnahme gilt für mein sportliches Programm. Hier gestatte ich es mir, jede verfügbare Energie aufzubringen. Weil ich es will, weil es guttut und weil es mir Spaß macht. Die Übungen dehnen und mobilisieren die Bereiche, die durch die OP verwundet oder verkürzt wurden. Der Türrahmen legt Zeugnis über die Entwicklung ab. Jede neue angezeichnete Höchstmarke – ein millimeterfeiner, kleiner und für mich so großer Fortschritt. Erinnert mich an Kindertage, wo wir mit Bleistift, Lineal und Datum unsere Körpergröße an der Tür festgehalten haben. Meine Grundschulfreundin Anna und ich immer im sprichwörtlichen Kopf-an-Kopf-Rennen um jeden Millimeter Wachstumsvorsprung. Heute sind wir übrigens genau gleich groß.
Die nach oben offene Skala der Mobilität, der Rahmen zwischen Küche und Wohnzimmer, bekommt also jeden Tag eine neue Bleistift-Stiege dazu. Eine Leiter zurück zur Normalität.
Auf dem Weg dorthin werde ich auch wieder regelmäßig im Fitnessstudio haltmachen. Erlaubt und erwünscht
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