Fremdkörper
mit Selbstmitleid und Verzweiflung, auszuweichen, so gut es geht. Taskforce: tapfer sein. Die nächste große Aufgabe ist mir an diesem Abend näher, als ich es ahnen kann. Das soll ich am darauffolgenden Tag schon erfahren.
12.
Monster Chemo
Die Visite bei mir muss für meine Ärztin Dr. Lauckmann am Tag 3 mittlerweile mehr als anstrengend sein. Weil ich durchaus anstrengend bin. Ich frage sie nämlich jeden Morgen dasselbe. Höflich, lächelnd, aber mit lästiger Penetranz: »Wann darf ich nach Hause?« Sie hat sich auf einen Deal eingelassen mit mir. Auf fünf Tage Krankenhaus haben wir uns einigen können, wenn meine Wunde sich bis zum finalen Tag so verhält, nämlich verheilt, wie das im Lehrbuch steht. Heute habe ich allerdings noch ein anderes Thema, das mir auf der Seele liegt. Es sind mal wieder meine Lymphknoten. Die dicken am Hals, und die, die entfernt wurden. Dr. Lauckmann weiß selbstverständlich längst, was zu tun ist: »Wir nehmen noch einmal Blut ab, um zu sehen, ob das Virus aus dem Körper raus ist. Wenn ja, dann sollten die Schwellungen bald zurückgehen.« – »Und was ist mit denen, die Sie rausgenommen haben?« – »Diese Untersuchung ist aufwendiger. Auf das Ergebnis müssen wir noch eine Woche warten. Aber«, sie zögert nur einen kaum wahrnehmbaren Bruchteil einer Sekunde, »das ändert ja nichts mehr an der weiteren Therapie.« Ich sehe sie an mit dem Blick eines Mädchens, dem gerade die Glaskugel heruntergefallen und in tausend Stücke gesprungen ist und das trotzdem noch die Hoffnung hat, dass das irgendjemand irgendwie schon kleben kann. Selbst der erwachsene Verstand startet einen letzten, verzweifelten Versuch: »Gibt es eine Chance, dass ich um die Chemo herumkomme?« – »Nein. Eigentlich nein.« Eigentlich heißt in diesem Zusammenhang: Natürlich kann mir niemand etwas aufzwingen, was ich nicht will. Aber es wäre schulmedizinisch grob fahrlässig, mich nicht durch dieses biochemische Fegefeuer zu schicken. Das ist das Ergebnis vieler Studien, jahrelanger Erfahrung und der neueste, hochverehrte Stand der Wissenschaft. Offiziell bin ich krebsfrei: ja. Darum geht es nicht mehr. Häkchen dran an das Thema auf der Liste der zu erledigenden Dinge. Aber ich soll es schließlich bis zum (bitte: späten und natürlichen) Ende meines Lebens bleiben. Bei befallenen Lymphknoten empfiehlt sich als Vorsichtsmaßnahme und zur drastischen Senkung des Rückfallrisikos eine adjuvante, also vorbeugende Chemotherapie. Heißt: ich muss mich quälen, ohne zu wissen, ob es was bringt. Wenn es was bringt, dann viel. Vor allen Dingen viel gesunde Lebenszeit. Letztlich geht es darum, möglicherweise entstandene Mikrotumoren, die aus den befallenen Lymphknoten entwichen sein könnten, die jedoch mit keiner Messtechnik dargestellt oder eindeutig definiert werden können, zu zerstören. Bevor sie mir in 20, 30 oder 40 Jahren erneut Ärger machen könnten. Viele Konjunktive für einen Fall, der – sollte aus dem Konjunktiv ein Indikativ werden – durch die Chemiekeule verhindert werden kann.
»Sie sind jung. Sie schaffen das. Und Ihre Prognose, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, beeinflussen wir dadurch wirklich besonders positiv.« Überzeugungsarbeit muss sie gar nicht mehr leisten. Ich will, dass der Krebs nie wieder kommt. Und dafür bin ich bereit, einiges auf mich zu nehmen. Zu kämpfen! Ha. Ich habe etwas zu tun. Auch wenn ich, wie vermutlich die meisten, mit dem Thema Chemotherapie nicht die allerschönsten Assoziationen habe.
»Also gut«, stelle ich fest und erstaune mich selbst mit meinem Gleichmut. »Dann Grüß Gott Chemotherapie.« In meinem Zimmer ist es mucksmäuschenstill. Wir alle hatten irgendwie bis zuletzt gehofft, dass wenigstens dieser Kelch an mir vorübergehen möge. Sei es drum. Das, was mich erwartet, ist erst einmal nicht so erbaulich. Alle Haare fallen aus, die Patienten leben zwischen Hundeelend und Katzenjammer, sie nehmen ab und nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil, vegetieren nurmehr. Irgendwie schon Todgeweihte. Zumindest nimmt man das als Nicht-Betroffener so wahr. Jetzt aber bin ich betroffen. Und ich habe einen anderen Plan als den, mich wieder krank machen zu lassen von etwas, was im Dienste der dauerhaften Gesundheit steht. Daher muss ich meine Ärztin fragen: »Meinen Sie, ich kann währenddessen arbeiten?« – »Wenn Sie möchten, warum nicht? Es gibt viele Patientinnen, die das hinbekommen.« – »Ich glaube, das würde mir sogar helfen.
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