Fremdkörper
reinzubringen ist für sich genommen schon eine schweißtreibende Angelegenheit. Später dann, wie früher schon, darf ich wieder joggen. Auf die Runden durch den wunderschönen Großstadtpark bei mir um die Ecke freue ich mich. Ehrlich. Laufen ist das Einzige, was auch meine faule Phase überlebt hat. Ohne wäre ich vermutlich ein einziges PMS. 30 Tage nonstop. Ach ja, und Yoga möchte ich endlich lernen. Ich gebe zu, ich hatte bisher gehörige Berührungsängste, weil mir drum herum immer zu viel Esoterik-Chi-chi gemacht wurde. Räucherstäbchen, die einem das Urteilsvermögen vernebeln, total befreite Yogalehrer, die ihr altes Ich auf irgendeinem Workshop in Goa gelassen haben, und Meditationen à la: »Ich fühle den Tisch in mir.« Nix für ungut, aber nix für mich. Schön, das Breittreten von Klischees und das sorgsame Pflegen von Vorurteilen, gell? Aber ich bin ja weicher geworden: Ich guck mir auch das alles einmal an. Denn die Idee von einer friedlichen Einheit von Körper, Geist und Seele, einer funktionierenden Wesens-WG sozusagen, macht für mich Sinn. Meine WG-Mitglieder müssen ziemlich zerstritten gewesen sein, sonst wäre ich nicht so krank geworden. So weit bin ich schon. Om.
15.
Ent-Deckung
Die Eitelkeit klingelt Sturm in mir an diesem Morgen. Ich will es jetzt endlich wissen. Wie sieht meine Brust aus, wenn sie sich nicht mehr unter Pflastern verstecken und bedecken kann? Wenn sie zum ersten Mal das Licht der Welt nach meiner persönlichen Stunde null sieht? Zerschnitten und zerfurcht, an der Nahtstelle schweinchenrosa und knubbelig verwachsen. So in etwa? Meine noch etwas schlaftrunkene, morgendliche Fantasie malt ein Bild, das jedem Maskenbildner eine Herausforderung wäre. Was ich nicht sonderlich schick finde, klar. Dennoch kriege ich die Vorstellung eines sehr ramponierten Busens nur schwer aus dem Kopf. Heute jedenfalls werde ich erfahren, wie groß der Schönheitsfehler wirklich ist. Heute sehe ich zum ersten Mal die Brust, mit der ich ab jetzt den Rest meines Lebens verbringe. Die Vernunft, meine eigene und in Person von Thom, haben mir in den vergangenen Tagen selbstredend versucht, das immerzu Gleiche einzutrichtern: »Es ist egal. Völlig egal, wie sie aussieht. Du bist gesund. Das ist die Hauptsache. Außerdem werden die Narbe doch sowieso nur du und ich je zu Gesicht bekommen.« – »Ja, schon. Aber ich habe Bilder im Internet gesehen ...« Ups. Internetverbot. Verraten. » ... also, ich habe Bilder gesehen, da tun einem die Brüste inklusive der dazugehörenden Frauen schon irgendwie ein bisschen leid. Weil so wild rumgeschnibbelt und noch abenteuerlicher vernäht wurde. Das sieht aus, als kämen die Patientinnen gerade vom Schlachtfest. Und nicht aus der Gefäßchirurgie.«
Meine Sorgen über einen unästhetischen Gewebeverschluss gründen sich nicht nur auf das entdeckte Fotomaterial, sondern auch auf meine letzte Operationsnarbe. Ein Fahrradunfall. Vor fast 20 Jahren. Damals muss noch mit dem Tacker gearbeitet worden sein. Thom muntert mich erwartungsgemäß auf: »Das ist so lange her. So grob wird heute nicht mehr geflickt. Ob du es glaubst oder nicht: Da haben die Medizin und ihre Methoden tatsächlich ein paar unbedeutende Fortschritte gemacht.« Wie sich das gehört, wenn man sich an seiner eigenen Meinung festgebissen hat, ignoriere ich diesen berechtigten Einwand. Weil Thom aber ein kluger Mann ist, lässt er mir irgendwann mein Schmollbedürfnis und das letzte Wort. Und beendet das sich im Kreis drehende Ja-aber-Gespräch auf seine Art und Weise. Die einzig wirkungsvolle zurzeit: Umarmung und Kuss. Auf dem Weg zu meiner Ärztin kreisen die Gedanken wieder um das eine Thema. Ich bin mir immer sicherer, dass ich mich auf einen nicht so schönen Anblick einstellen sollte.
Was ich erwarte, wird ganz treffend durch das Credo für perfektes Design beschrieben: form follows function. Das heißt, erst einmal den Krebs restlos entfernen. Und danach kümmert man sich um die Optik. Das stärkt meine Theorie, dass heute mal wieder ein Tag ist, um Tapferkeitsmedaillen abzustauben. Stark sein. Nicht jammern. Ich spüre, wie sich mein Soul-Security-System warm läuft. Damit es mich nicht so kalt erwischt. Also vorher im Kopf durchspielen, was ich schlimmstenfalls aushalten muss. Daher stelle ich mir brav bildlich vor, wie Dr. Lauckmann die Pflaster entfernt, ich an mir heruntersehe, vorsichtig über die Haut fahre und die ein, zwei, vielleicht drei neuen Wülste erkunde, die ab
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