Fremdkörper
das Streckennetz, über das das Feuerzeugs sich ausbreitet. Ich habe mich etwas erschrocken. Erstlings-Schrecken. Weil mir in meinem Leben auf diese Art und Weise eben noch nie die Temperatur nach oben getrieben wurde.
Im Moment habe ich allerdings weniger erhöhte Körpertemperatur als erhöhten Herzschlag. Das Ziel dicht und dementsprechend gestochen scharf vor Augen: Ich darf gleich nach Hause. Wie vereinbart. Und so trage ich alle Maßnahmen, die zum Auscheck-Vorgang gehören, mit hüpfender Leichtigkeit. Noch mal Blut abnehmen? Kein Problem. Verband erneuern? Klar, reißen Sie das alte Pflaster ruhig runter. Reißen. Nicht so übervorsichtig knibbeln. Es ist 8 Uhr 17, als Thom und meine Mutter das Zimmer betreten und beide ziemlich lachen müssen, als sie mich sehen. Da sitze ich, unschwer zu erkennen, seit längerer Zeit schon abreisebereit: Medizinisch rundum versorgt, habe mich gewaschen und angezogen (wie sensationell gut das trotz des immer noch unbeweglichen Arms geklappt hat. Juchhe!), die gepackte Tasche neben mir. E.T. kann nicht sehnlicher nach Hause gewollt haben als ich in diesem Augenblick.
Unser Heim nimmt mich in Form einer zum gemütlichen Bett umgebauten Couch in die Arme. Ich plumpse in die Kissen, lege mir einen Stapel DVDs zurecht und verbringe die erste Zeit daheim mit Filmen, Musik, Büchern und sehr, sehr viel Schlaf. Es scheint, als hätte ich einige Monate davon nachzuholen. Zumindest erinnere ich mich nicht, dass ich irgendwann in der Zeit, an die ich mich erinnern kann – also alles jenseits von vier Jahren – jemals so viel geschlafen habe wie in diesen Tagen. Ich vermute, dass nicht nur die körperliche, sondern auch die emotionale Erschöpfung ihren Tribut fordert. Denn es ist zwar keine Naturkatastrophe mit vielen, aber es ist eine Ego-Katastrophe mit einem Opfer passiert in meinem Leben. Und der gefühlte Schaden ist groß. Mein Ich und alles, was es gestützt hat, wurde massiv angeknackst – und meine gesammelten Lebensabschnittsweisheiten in ihren Grundfesten erschüttert. Wie war das noch: Ich bin das Ergebnis von viel Arbeit, Disziplin und Fleiß? Ich habe eine Plastikkarte vom Klub der selbst ernannten Gutmenschen, darum wird mir schon nichts Schlechtes widerfahren? Ich lebe gesund, also werde ich nicht sterbenskrank? Boah. Was werden solche Leitsätze Lügen gestraft. Stattdessen bekomme ich durch das, was ich da gerade erlebe, einmal mehr eine kostenlose, aber umso wertvollere Lektion in Demut und Dankbarkeit für jeden schönen, gesunden, angstfreien Tag.
Angst spielt für mich eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, in dem Stück das sich »Leben« nennt, die Stimmung zu versauen. Angst macht mich handlungs- und denkunfähig. Angst übernimmt Kontrolle. Und die gebe ich doch so ungern ab. Für mich ist Angst so etwas wie der Tod der Seele zu Lebzeiten. Das Einzige, was einen vor einem vorzeitigen, übereilten und natürlich ungesicherten Sprung in zu große Tiefen bewahrt, ist das Wissen darum, dass die Seele wieder auferstehen kann. Wenn man die Angst zum Teufel gejagt hat nämlich. Das ist aber noch nicht alles. Ich ahne, dass mir diese Krankheit, die es ernsthaft auf mein Wohl und mein langes Leben abgesehen hatte, noch etwas beibringen will. Im Crashkurs-Verfahren: ein bisschen mehr Gelassenheit. Ist das die Kunst vom Lassen? In Ruhe lassen. In Frieden lassen. Sein lassen. Was habe ich mich oft erklärt, vor mir selbst oder Freunden, was Jobs beziehungsweise meinen Berufsweg betraf. Mal ging es darum, Entscheidungen zu rechtfertigen oder – schlimmer noch – zu entschuldigen. Mal darum, die eigene Ungeduld auszuhalten, wenn Anspruch und Wirklichkeit wieder nicht übereinstimmten. Weil ich nicht immer so durfte und konnte, wie ich gern gewollt hätte. Und eigentlich immer ging es darum, dass ich auf die Zukunft gesetzt habe. Und mich wenig an der gar nicht so üblen Gegenwart gefreut habe. Weil in meinen Gedanken morgen immer alles besser wird, als es heute schon ist. Verblüffend, wie weit Vorstellung und Realität auseinandergehen können. Hahaha. Aber all das ist plötzlich unheimlich unwichtig. Wenn ich schon nicht weiß, wie viel Zukunft ich habe, dann bleibt mir ja gar nichts anderes, als das Jetzt endlich lieben zu lernen. »Locker machen, Mädchen,« sage ich mir selbst, das Couchkissen im Nacken und The Producers im DVD-Player (übrigens: ein großartiger Film. Lustig und böse. Da ich ihn etwa ein Dutzend Mal gesehen habe, tun gedankliche
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