Fremdkörper
sind auch ähnlich multi-color gefärbt. Carla kümmert sich rührend um uns. Und um mich als Neuling mit besonderer Aufmerksamkeit. Vermutlich veranlasst durch meinen verhuschten Waldtierblick. Die Unsicherheit kriecht immer wieder hinter meinem Sehnerv hervor und setzt sich in meinen Augen fest. Ich bekomme eine dicke Nadel in den Port gepiekst, was glücklicherweise nur kurz etwas wehtut, und dann geht es los. An meiner rollenden Standgarderobe hängen unterschiedliche Beutel mit klarer und farbiger Flüssigkeit. Meine erste Dröhnung kommt aus einer Tüte mit einem Anti-Übelkeitsmedikament. Zusätzlich zu den Tabletten, die ich bereits zu Hause genommen habe, soll das verhindern, dass ich den ganzen Nachmittag vis-à-vis mit der Keramikschüssel im Bad verbringe. Was passiert, wenn man ohne die Brech-Bremsen, wie ich sie nennen werde, zurechtkommen muss, das soll ich schon zwei Wochen darauf erfahren. Diesem sehr speziellen Erlebnis widme ich mich später.
Das Kotz-Stopp-Zeug habe ich schnell intus. Und dann geht es los. Der rote Saft, Epirubicin, wird angelegt und schleicht sich durch den Schlauch immer näher an mich ran. Als die Flüssigkeit kurz vor meiner Nadel angelangt ist, schließe ich die Augen, beiße die Backenzähne aufeinander und denke mir: »Ich seh rot. Für den Krebs. Das war’s, Bastard. Bye-bye.« In schockstarrer Erwartung irgendeiner mürrischen Reaktion meines Körpers auf das Zellgift verharre ich einige Minuten deutlich verkrampft und weitestgehend regungslos in meiner Liege. Der erwartete Aufstand der Organe bleibt aus. Brav. Die Muskeln lösen sich. Ich lasse meinen Kopf nach hinten auf das Kissen sinken und gebe dem Gefühl nach Nickerchen nach. Ziemlich genau drei Stunden später ist alles vorbei. Und es fühlt sich alles ganz normal an. Bis auf die Tatsache, dass ich dringend auf die Toilette muss. Immerhin habe ich während meiner Sitzung anderthalb Liter Wasser getrunken. Ein ärztlicher Tipp: viel Flüssigkeitszufuhr. Der Urin ist knallrot. Kein Grund zur Panik. Sondern eine logische Konsequenz. Sieht außerdem viel hübscher aus, als das Beige oder manchmal gar beißende Gelb, das man sonst kennt. Am liebsten hätte ich mein Purpur-Pipi behalten, das Mittel soll ruhig noch etwas länger in mir wüten. Aber ich sage mir, dass es wohl auch ohne Blasenverschluss seine Wirkung entfaltet. Die machen das hier ja nicht zum ersten Mal. Beruhigend.
Ich verlasse die Ambulanz lächelnd. Ziemlich genau vier Wochen nach der OP habe ich meinen allerersten Chemo-Zyklus hinter mir. Jetzt sind es nur noch acht.
22.
Meet & greet (Woche 2)
Am Tag nach meiner ersten Sitzung stehe ich mal wieder ziemlich früh am Morgen vor dem Badezimmerspiegel und mache Gesichtskontrolle. Wie damals – es ist schon so lange her, dass ich mich über das Erinnerungsvermögen freue – als ich meine Unschuld verlor. Da habe ich auch minutenlang im Bad nach Anzeichen gesucht, die darauf hinweisen, dass ab jetzt etwas sehr anders ist in meinem Leben, als es das bisher war. Heute wie damals kann ich natürlich keine sichtbaren Spuren finden. Ich ziehe sogar erst vorsichtig, dann fester an meinem Haupthaar. Nö. Da bewegt sich noch nix. Die Wolle klammert sich an meine Kopfhaut in altbewährter Kraft. Schön. Die Nacht war gut. Ich habe geschlafen wie ein Baby. Und auch zu einer kindlichen Uhrzeit: um 21 Uhr. Wenn Müdigkeit als Nebenwirkung mein einziges Laster bleibt in den nächsten Monaten, dann will ich nicht meckern. Schlafen tut nicht weh. Sondern gut. Und außerdem bekomme ich so seit gefühlten 150 Jahren endlich mal die acht Stunden Schlaf am Stück, denen ich schon so lange hinterherhechle. So kann es weitergehen.
In meiner privaten Akte zur Therapie vermerke ich eine erste Woche ohne besondere Vorkommnisse. Wohlbefinden fein. Arbeit super. Täglich Sport. Laune bestens. Der obligate wöchentliche Check der Blutwerte, sieben Tage nach der ersten Infusion, liefert zusätzlich Grund zur Freude: Rote und weiße Blutkörperchen sind in gesunder Anzahl vorhanden. Wie wichtig diese Kontrolle und ihr Ergebnis ist, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht klar. Erst, als ich weitere Nebenwirkungen der Therapie recherchiere (Internetverbot wurde etwas gelockert) und lese, dass ich im Laufe der Zeit wohl unvermeidlich an Blutarmut leiden werde – was mich krankheitsanfällig und schwach macht und mir diese hübsche, grau-gelbe, Sie-ist-von-der-Krankheit-sooo-gezeichnet-Gesichtsfarbe
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