Fremdkörper
schön in Gefahr. Die Gefahr, verraten zu werden. Und doch siegt der Mut, dieses Risiko einzugehen. Um im Zweifel Erfahrung, Verständnis und Gemeinsamkeit zu gewinnen. Das Glücksgefühl ist groß. Ohne dass ich es zuvor bemerkt hätte, drohten Teile von mir eben noch zu platzen. Jetzt hat jemand den Stöpsel gezogen und lässt alles kanalisiert ablaufen. Endlich lossprudeln zu können, vermeintlich dumme, als auch berechtigte Sorgen zu teilen, darüber zu lachen oder auch zu schweigen – gut der Mut, mich darauf einzulassen. Die Sache, der Krebs, macht Bianca und mich zu Schwestern im Geiste. So viel steht fest.
Und bald auch zu Schwestern auf dem Haupte. Das ist mir nach diesem Nachmittag auch klar. Nur noch wenige Tage bleiben mir mit der Körperbehaarung. Wobei ich grundsätzlich gerne auf jeglichen Bewuchs verzichte (Epilierer, Rasierer, adieu!). Nur so ungern auf dem Kopf. Ziemlich genau zwei Wochen nach der ersten Infusion, so war es jedenfalls bei Bianca und die wiederum weiß Ähnliches von anderen Patientinnen, verabschiedet sich das Haar zum kollektiven Suizid, wobei meine Kopfhaut als Sprungplattform genutzt wird.
Nicht schön, nicht wahr? Vor dem Augenblick, wenn sich die ersten Härchen lösen, habe ich immer noch ordentlich Bammel. Wieder und wieder stellen sich die immer gleichen Fragen: Bin ich mit einem Mal haarlos? Oder verabschiedet sich die Matte strähnchenweise? Lassen die Haare widerwillig los oder geben die Wurzeln sie frei, so als hätten sie urplötzlich ihren Griff gelockert? Immer wieder kneife ich die Augen zusammen und versuche mich durch den wimpernverhangenen Blinzelblick im Angesicht der Glatze vorzustellen. Holla. Hallo Kojak! Das wird komisch werden. Aber, kommt es mir in den Sinn, das Komische kann ja verkürzt werden. Indem gekürzt wird, was sowieso bald weg ist. Ich mach Kahlschlag. Wenn ich es will. Sobald das Lösen losgeht, rasiere ich mir eine Glatze. Meiner Rechnung nach ist es in ungefähr drei bis vier Tagen so weit.
23.
Beim 2. Mal nicht mehr so sehr (Woche 3)
Der zweite Zyklus steht an. Dementsprechend zeitig klingelt der Wecker an diesem Morgen. Ich springe aus dem Bett. Springe. Nicht krieche. Vorfreude auf Hinter-mich-bringen. Heute Nachmittag kann ich wieder eine Sitzung von meiner Liste streichen. Jippie! Ein Blick auf meine Medikamentenliste, für die man fast schon einen Volkshochschulkurs im Sehen und Verstehen medizinischer Excel-Tabellen braucht. Danach werfe ich mir in der angeordneten Reihenfolge die etwa 127 Tabletten ein, die ich dringend vor der Infusion im Blutkreislauf verteilt wissen muss. Schutz vor dem Übel, das die Chemo so mit sich bringt. Übelkeit zum Beispiel. Hatte bisher – toi, toi, toi! – noch nicht das zweifelhafte Vergnügen einer Bekanntschaft mit Brechreiz. Zumindest nicht wegen der Medikation. Und wirklich scharf darauf bin ich nicht, Gift und Galle spucken zu müssen.
Zu meinem eigenen Erstaunen beflügelt eine nicht einkalkulierte Leichtigkeit meinen Schritt. So wippe ich den Weg entlang zur Ambulanz, sauge die noch kühle, aber sauerstoffgeladene, frühlingsfrische Luft ein und denke bei mir: »Nur noch diese Infusion. Und die nächste ist schon die letzte vom ersten Drittel. Ist doch gar nicht mehr viel.« Schön schöngerechnet, gell? Wenn man bedenkt, dass ich erst eine (!) Sitzung hinter mir habe. Müde, aber lächelnd eile ich auf die Station. Kein Zögern, kein Zaudern, kein Zagen. Wie schnell das ging. Das Sich Akklimatisieren mit der Ambulanz. Erinnert mich an meine Rucksackreisen. Das kuschelige Gefühl der eigentlich etwas verfrühten Vertrautheit, das einen umhüllt, wenn man am Morgen nach der Ankunft in einer fremden Stadt in einem fernen Land mit der gleichen U-Bahn des Vortages durch die Gegend fährt. Es könnte dasselbe sein wie beim ersten Mal. Ist es aber nicht. Der wesentliche Unterschied: Heute, nur einen Tag später, weiß man ja, wie es geht. Logo. Wo es die Tickets gibt, wohin das Schienennetz führt, wie es um den Verhaltenskodex im Wageninnern steht – stehen bleiben, Richtung Wagenmitte rücken und so weiter. Heute sind die Schächte nicht Furcht einflößend und versifft, sondern »irgendwie interessant und so aufregend urban«. Und die Untergrund-Musikanten nicht potenzielle Psychopathen mit aufgeklapptem Messer in der Hosentasche, sondern bestimmt alle Künstler, Freigeister, Aussteiger. Genau diese durchaus etwas überhebliche, allwissende Unbeschwertheit durchströmt mich auch jetzt.
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