Fremdkörper
verleiht – kapiere ich, wie heftig die Zytostatika eben nicht nur mögliches böses Material im Körper angreifen. Sondern sich auch an meinem guten, gesunden Zellsystem vergehen. Noch ist es nicht so weit. Was kümmern mich also die theoretischen Sorgen von morgen heute? Nicht. Genau.
Und so spaziere ich fröhlich und energiegeladen wie seit Langem nicht mehr an diesem sonnigen Bilderbuchtag zu einem meiner Lieblingscafés in der Hauptstadt. Ich bin nämlich heute zum ersten Mal mit Bianca verabredet. Ein bisschen komisch ist es schon, sich mit einer mir wildfremden Person zu treffen, mit der mich einzig und allein ein Befund verbindet. Immerhin angenehmer und intimer, als mein Seelenleben vor einer Horde Selbsthilfegruppen-Mitglieder auszuwalzen. In meiner Situation, mit der Sehnsucht nach weniger Öffentlichkeit und mehr Privatheit, wäre so eine Massentherapie im Stuhlkreis eine mäßig gute Idee. Irgendeine findet sich immer, die kostbare Informationen auf meine Kosten weitergibt. Nicht kostenlos, versteht sich. Und Bianca? Ich bin mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sicher: Die ist kein Gold-Digger. Goldgräber. So hat ein sehr guter Freund mal die Menschen bezeichnet, die sich vornehmlich deshalb mit bekannten Personen tummeln, weil sie in irgendeiner Form von der Prominenz zu profitieren suchen. Sei es, um etwas vom Scheinwerferlicht abzubekommen oder ein Stück vom profitablen Kuchen. Will heißen: Man möchte mit höchst privaten Informationen die Titelseiten und das Portemonnaie füllen. Das ist ziemlich weit entfernt von jeglichem Anstand. Aber nun mal Alltag. Bianca passt überhaupt nicht ins Gräber-Profil. Im Gegenteil. Sie ist klug, zurückhaltend und – selbst betroffen. Das – und mein Bauchgefühl – machen sie mir als potenzielle Nachtigall der Gazetten sehr unwahrscheinlich. Länger grübele ich über blinden Vertrauensvorschuss oder zu große, schnelle Nähe nicht nach. Dies ist keine Zeit zum Zögern. Ich will handeln.
Bianca begrüßt mich mit ihrer Judy-Winter-Frisur aus Kunstfaser. »Schwimmt dir die Matte bei der Hitze nicht vom Kopf?«, will ich wissen. Sie verneint, setzt sich aber vorsorglich in den Schatten. Während ich mein Gesicht gedankenlos der Sonne entgegenstrecke. Sie weist mich, als Ärztin zeitweise a. D., aber völlig zu Recht, darauf hin, dass »wir da ja etwas vorsichtig sein müssen«, wegen der fototoxischen Reaktionen der Medikamente. Zu deutsch: Raus aus dem intensiven Mittagslicht, es könnte giftig sein. Zum zweiten Mal, nach der Ankündigung meiner Sportoffensive, setze ich mich bewusst ein wenig über die Ratschläge der Ärzte hinweg. Mit großer Wonne. Und kleinem schlechten Gewissen. Ein bisschen wenigstens. Immerhin: Nach wenigen Minuten eigenverantworteten Trotzes ziehe ich alibihalber meine Mütze und die Sonnenbrille auf. Das muss als UV-Schutz erst einmal reichen. Alle anderen Schutzmechanismen, um meine Privatsphäre privat zu halten und mein Innerstes bloß nicht nach außen zu kehren, fallen innerhalb der ersten Minuten. Zu gut tut es, endlich mit jemandem zu sprechen, der mich 100-prozentig versteht. Ja, auf eine gewisse Art logischerweise noch besser als mein Liebster. Ein jemand, der die gleiche Prozedur hinter und vor sich hat. Jemand, der lernen muss, mit denselben unbeantwortbaren Fragen durchs Leben zu gehen. Jemand, dem ich nicht viel erklären muss. Der Sätze vervollständigen kann, bevor sie ausgesprochen sind. Jemand, dem ich undefinierbare Gefühle nicht definieren muss, weil er sie selbst spürt. Jemand, der es überhaupt nicht akzeptieren will, dass einen diese Diagnose fertigmacht. Jemand wie ich. Mit einem einzigen Unterschied, den ich großmütig akzeptieren kann: vier Wochen Vorsprung in der Therapie.
Unser Gespräch ist erschreckend offen. Fürchterlich eigentlich. Mir wird bei solchen Begegnungen bange. Menschen, deren Lebensgeschichte ich kenne, bevor der Drink ausgetrunken ist, zu dem man sich mehr oder minder zufällig an der Bar getroffen hat, machen mir Angst. Und mein Fluchtreflex in solchen Fällen funktioniert normalerweise hervorragend. Heute nicht. Nach 20 Minuten berichtet Bianca von privaten Dingen, die andere Frauen ihren Freundinnen selbst nach 20 Jahren noch nicht erzählen. Und ich halte mich auch nur anfangs vornehm und vorsichtig zurück. Was mich zwischendurch immer wieder alarmiert innehalten lässt. Tatütata! Was mache ich hier? Ich begebe mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ganz
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