Fremdkörper
ich mir heute stolz wie Bolle auf meinem Konto gutschreiben kann. Mit der Flasche Mineralwasser am Hals und immer noch schwer atmend stehe ich am Fenster und blicke Richtung Fernsehturm. Eine Aussicht, die ich auch im dritten Jahr in Berlin noch sehr mag. Weil ich von unserem Wohnzimmer aus einen unverbauten Blick auf die markante Kugel des Turms, in der sich auch das sich drehende Restaurant befindet, habe.
Und so gucke ich von unten in der Stadt nach oben in den Himmel. Und umgekehrt habe ich auch schon getestet, dass man mein Wohnzimmerfenster von der Aussichtsplattform aus sehen kann. Von ziemlich weit oben nach unten in die Häuserschluchten. Rauf und runter, runter und rauf. Meine Kurve des Wohlbefindens hat ähnlich viel Bewegung. Aber: Das schafft man schon. Denn ich merke immer mehr, dass ich eines mittlerweile besonders gut kann – egal, ob beim Feiern oder beim Laufen. Oder bei der Chemotherapie: durchhalten.
31.
Eine Pariserin in Berlin (Woche 11)
Aushalten ist auch eine immer wiederkehrende Disziplin in der Lebensphase Chemotherapie. Eine etwas ältere Mitpatientin, Christine, muss zurzeit einiges aushalten. Was, das erzählt sie mir, als wir uns zu einem gemütlichen Nachmittagstee in einem hübschen Hauptstadtcafé treffen. Wobei ich eigentlich immer weniger gern vor die Tür gehe. Alle Haare weg. Selbstbewusstsein auch. Und die Bastelstunde am Gesicht mit ausgiebiger Klebe- und Malarbeit löst keine Begeisterungsstürme aus. Also habe ich die Wahl zwischen Nacktmull-Optik oder mich mit mullbindenähnlichem Tuchmaterial zu umwickeln und die schmucklosen Augen hinter meiner Fensterglas-Brille zu verstecken.
Heute sitze ich Christine in derart getarnter Form gegenüber. Während sie gerade die Maskerade des guten Tons fallen lässt: »Das ist so unglaublich anstrengend. Und auch chancenlos. Was immer ich ihr sage, um ihr Mut zu machen, sie weiß es besser – nämlich, dass es ihr schlechter geht. Und zwar schlechter als uns allen zusammen.« Christines Gemüt marschiert Richtung Siedepunkt. Der Grund ist eine Frau, die mir glücklicherweise noch nicht persönlich begegnet ist, da ich ihr gegenüber – wenn sie sich wirklich als derart beratungsresistent erweist – vermutlich wenig damenhafte Dinge loswerden würde.
Es geht also um eine Dame, die Christine schon vor einigen Wochen während einer Infusionssitzung kennengelernt hatte. Es handelt sich um eine Deutsche, ich nenne sie Frau Coco, die seit Jahren in Paris lebt. Die Diagnose Brustkrebs hat sie, wie jede von uns, ziemlich unerwartet und mit unkalkulierbarer Wucht getroffen. Nun wird sie in Berlin chemotherapeutisch behandelt. Nicht etwa, weil es hier die besten Ärzte und modernsten Brustzentren gibt. Wobei Berlin tatsächlich einen wirklich hervorragenden Ruf genießt. Europaweit. Nein. Madame lässt sich einfliegen, damit von ihrem Pariser Freundeskreis möglichst niemand mitbekommt, womit beziehungsweise wogegen sie gerade zu kämpfen hat. Oh, terrible!
Es ist ebenso wenig chic, in die Diskussion um die existenziell feministischen Weltanschauungen einer Simone de Beauvoir zwischen einem kräftigen Schluck Chateauneuf du Pape und dem Zug an der letzten Gitanes der Schachtel einzuwerfen: »Ey, Leute. Ich habe da ein Problem. Nämlich Krebs.« Oh, mon dieu, quel malheur. Eigentlich ist Coco daher höchstgradig bemitleidenswert. Höchstgradig. Wenn sie davon nicht ohnehin sehr viel übrig hätte, und zwar für sich selbst. Eine klassische IDÄ (Ich, die Ärmste) eben. Christine braust auf: »Die wollte von mir ernsthaft wissen, wie sie sich denn jetzt in so kurzer Zeit für ihre Zweitwohnung eine fähige Haushaltshilfe zulegen soll. Denn: Wer soll bloß einkaufen? Wer kochen? Wer beim waschen und essen und bewegen helfen ... aaaah.« – »Sag mal, aber die hat schon das Gleiche wie wir. Oder hat das Rückenmark auch eine Beschädigung erfahren, sodass sie die Arme gar nicht mehr bewegen kann?« – Christine glüht mittlerweile: »Nein. Natürlich könnte sie alles selbst. Aber sie glaubt, sie könnte nicht. Oder sie will nicht. Außerdem liegt sie mir immer in den Ohren, dass sie ohnehin die heftigste Chemotherapie bekommt, die jemals verabreicht wurde.« – »Und?« – »Natürlich nicht. Das ist – mit Verlaub – Pippifax gegen die Mischung, die unsereins wegstecken muss.« Ich merke, dass sich meine Gesichtszüge, besonders Stirn- und Augenpartie, während ihrer Erzählung verkrampft haben.
Warum strengt mich so eine
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