Fremdkörper
nicht will!) absurd genug, um sofort wieder vergessen zu werden. Subjektiv (sooo!) gesehen gerade gut genug, um mir gehörig Angst zu machen. Gegenstand meiner depressiven Verstimmung ist die betonfeste Überzeugung, dass die Ärzte mir nicht die ganze Wahrheit gesagt haben. Dass es eigentlich viel schlimmer um mich steht. Dass es nur niemand übers Herz bringt, mich mit den schmerzvollen und fatalen Fakten zu konfrontieren. Weil ich mich doch sonst so vorbildlich auch in belastenden Momenten an die Leichtigkeit klammere. Ich gehe im Geiste Augenblicke, Stippvisiten und Gespräche noch einmal durch. Und dabei deute ich Sekunden des Zögerns oder Gesichtsausdrücke, mitleidige natürlich, als Bestätigung meiner Theorie.
Diese Ahnung, dass viel zu schnell um ist, was für mich noch gar nicht richtig angefangen hat – mein Leben – wird mit jeder Minute, in der ich mich in die formvollendete Paranoia hineinsteigere, zur Gewissheit. Wieder muss ich weinen, jammern, ins Kissen beißen und zittern. Und: »Nein. Nein. Nein«, sagen. Wie ich dieses Loch hasse, in dem ich gerade sitze. Hass trifft es. Denn Todesangst ist das hässlichste Gefühl auf der Welt. Das fieseste. Und schlimmste. Noch gemeiner als Verlustschmerz und Trauer. Die Summe aller grausamen Gefühle. Und anders als in anderen Situation, in denen die Todesangst dazu geführt hat, alle Energie für das Überleben zu sammeln, kauere ich gekrümmt unter der Decke und zerfließe. Überflüssig. Aber ich kann es nicht stoppen. Als Thom mich entdeckt, geht es schon wieder etwas besser. Seine Gegenwart hilft genesen.
Eine Viertelstunde gemeinsamen Schweigens später kann ich schon wieder hicksfrei Atmen: »Ich gehe gleich laufen.« Die Worte kommen noch etwas krächzig aus der Kehle. »Wirklich? Du kannst doch auch mal einen Tag aussetzen und dich ausruhen.« – »Ich weiß. Ich will aber. Gerade nach so einem armseligen Start in den Tag. Das wird mir guttun.« – »Wie du meinst ... dann lauf, mein Mädchen.« Leichter gesagt als getan. Mühevoll rolle ich mich aus dem Bett. Warum streiken die Muskeln? Meine Beine sind schwer, als hätten sie Bleigewichte in den Knochen. Mein Kreislauf spielt mir Streiche und malt kleine Pünktchen und Sterne ins Blickfeld. Zu meinem eigenen Entsetzen und Unverständnis bin ich in meiner Gesamtheit ein zitternder Wackelpudding. Thom versucht es noch einmal kurz: »Willst du in deinem Zustand wirklich joggen?« – »Ich will es wenigstens versuchen. Wenn es nicht besser wird, wenn ich am Ende der Straße bin, drehe ich wieder um.« – »Aber nimm für alle Fälle dein Handy mit. Ruf mich jetzt schon mal an, dass du zur Not nur Wahlwiederholung drücken musst.«
Hach, ich gestatte mir 27 Sekunden des außerplanmäßigen Verliebtseins ob seiner Fürsorge und der beinahe väterlichen Für-jedes-Problem-eine-Lösung-Haltung. Danach arbeite ich an meiner eigenen. Also, Haltung. Und die ist gerade nicht wirklich ein Vorbild an Spannung oder Willen. Es will mir nämlich kaum gelingen, mich aufzurichten, geschweige denn lauftaugliche Klamotten anzuziehen. Träge und immer wieder schlapp zusammensinkend bringe ich die Beine irgendwie in die Hose und die Arme auf nahezu mystische Art und Weise in mein Lieblingssweatshirt. Das größte Problem liegt aber am anderen Ende meines Körpers. Wie soll ich mit den Füßen in die Sportschuhe schlüpfen, wenn jeder einzelne das Gewicht einer Straßenlaterne hat? Also umgreife ich zunächst den linken, dann den rechten Oberschenkel, hebe die Beine mit der Kraft der Arme an und zwinge die Füße ins Schuhwerk. Selbst das Zubinden ist eine Zumutung. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Der eigene Körper wird mir immer fremder. Und so schwer. So unwillens, meinem geistigen Befehl zu gehorchen.
Insgesamt dauert es fast eine Dreiviertelstunde, bis ich im gewohnten Outfit, aber ungewohnt schleppend das Haus verlasse. Die ersten Schritte sind eine Qual. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht jede Sekunde auf dem Asphalt langmache. Was gar nicht so einfach ist, weil ich mit den Sohlen kaum den Boden verlasse. Nach 30 Sekunden löst sich das erste Problem, nämlich die Punkte vor den Augen, in Luft auf. Zwei weitere Minuten später haben die Knöchel den Ballast abgeworfen. Es wird leichter. Ja ja ja. Kurz bevor ich den Park, die grüne Großstadtlunge, erreiche, heiße ich eine gute, alte Bekannte aufs herzlichste willkommen: Meine Energie ist wieder da. Zurückgekehrt. Von ganz alleine. Und ich
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