Fremdkörper
Händen und der Chemo-Waffe im Rücken meinen Körper. An vielen Stellen ist das eine wahre Freude. An manchen tiefes Leid. Ich seufze beim Anblick meiner Augenbrauen. Die waren mal so buschig, dass sie einer Frida Kahlo zur Ehre gereicht hätten. Jetzt verabschieden sie sich in unvermuteter Geschwindigkeit. 10, 15 Härchen, verteilt auf zwei Augen, sind mir geblieben. Fehlplatzierte Fussel von löchriger Optik. Aber auch die werden sicher gehen. Noch schmerzvoller: die Wimpern. Der Rahmen der Augen. »Du hast ja richtige Winke-Wimpern«, hat eine meiner Maskenbildnerinnen mal gesagt. Und meinte damit die natürlich geschwungene Form und die beachtliche Länge. Davon sind mir noch genau drei geblieben. Drei. An meinem linken Auge gibt es im Moment noch eine kräftige Lange in der Mitte und eine kleine Feine außen. Rechts hält wacker eine Einzige in der Mitte die Stellung. Die Augen sind nackig. Und das mutet nicht sexy an, sondern ist schlicht glupschig.
Ich fühle mich kurz wie ein Mitglied des Collina-Clans. Collina, der italienische Schiedsrichter, der auch so aussieht, als hätte er sein Haarshampoo mit Pilca-Creme verwechselt. Ich bin mir fremd. Deswegen gefalle ich mir nicht. Weil ich mich nicht wiedererkenne. Zurzeit zumindest. Wenn man sich drei Jahrzehnte lang an eine gewisse Optik gewöhnt hat, die allenfalls durch Haarlängen, leichte farbliche Veränderungen oder Gewichtsschwankungen verändert wird, fällt die Umstellung wirklich schwer. Mit einem schwarzen Kajal umrande ich meine Augen etwas kräftiger als sonst. Das hilft schon mal.
Aber ich halte spätestens jetzt noch mehr Schummeln für durchaus angebracht. In der Accessoires-Abteilung eines bekannten Make-up-Konzerns ist das Gesuchte schnell gefunden: falsche Wimpern zum Ankleben. Ich habe das noch nie gemacht. Warum auch? Wurde nie gebraucht. Denn wenn das eigene Wimpernvolumen zwecks Showeffekt aufgepeppt werden musste, dann war im Zweifel immer eine Visagistin zur Stelle, die mir mit der geschickten Hand jahrelanger Übung einen künstlichen Wimpernkranz anbringen konnte. Jetzt stehe ich alleine und reichlich ratlos im Bad. Die künstlichen Wimpern in der einen, den Hautkleber in der anderen Hand. Ich schmiere den Ansatz mit Masse voll. Sehr voll. Dann pappe ich das klebrige Kränzchen aufs Augenlid. Und, Abrakadabra: Es sitzt nicht. Beim ersten Mal nicht. Auch nicht beim Versuch danach. Anlauf 3 geht – na? jawohl! – gehörig daneben. Im wahrsten Sinn des Wortes. Nummer 4 auch. Es kostet mich einen ganzen Nachmittag im Bad, einiges an Geduld und sehr viele Nerven, meinem rahmenlosen Auge eine würdige Dramatik zu verleihen.
Am Ende klappt es dann doch. Die Wimpern sitzen an genau der Stelle, an der ich mal wirklich welche hatte. Und mit ein bisschen Schminke drum herum fällt es im Prinzip nicht auf. O. k., noch hat mein Anblick nicht zu übersehenden Transen-Charme. Was aber nur daran liegt, dass ich im Laden in der Eile danebengegriffen habe und jetzt die extra-long Lashes mit eingewebten Silberfäden auf dem Auge trage. Fröhliche Weihnachten, hier kommt der Lametta-Look. Der ist aber glücklicherweise nur eine Formsache. Morgen kaufe ich die natürlichen, normal langen Exemplare. Wichtig nur, dass das Fummeln durch die ausgedehnte Übungseinheit heute Morgen schon nicht mehr so lange dauert. Ich zupfe mir meine Augenperücken wieder runter. Schlafen kann ich auch ohne. Und dank der äußerst zufriedenstellenden Interims-Lösung bestimmt ziemlich gut.
Als ich mir am nächsten Morgen verschlafen die Augen reibe, halte ich umgehend verschreckt inne. Die letzte Wimper rechts habe ich mir soeben vom Lid gerubbelt. Na, toll! Bevor ich auf der Welle der Stimmungsschwankung ungebremst ins nächste Tief reite, bringe ich mich und meine Füße in Sportsachen unter. Los, laufen. Das Wetter ist sonnig und noch nicht zu warm. Und ich nicht gerade das, was man eine Konfettispuckende Bespaßungskanone nennen würde. Was die Diskussion mit dem Schweinehund (»Joggen, muss das sein?«) sehr schnell zu meinen Gunsten (»Ja, es muss.«) entscheidet. Schon nach sehr wenigen Metern verpufft sein Bild in mir.
Nach dem ersten Kilometer fühle ich dermaßen viel Energie in den Oberschenkeln, dass ich beschließe, mal wieder eine etwas größere Runde zu wagen. 1 Stunde und 21 Minuten später stehe ich durchaus ausgeglichen, durchaus ausgepowert und durchaus durchgeschwitzt wieder in unserer Küche. Fein gemacht, Mädchen. Viele erkämpfte Kilometer, die
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