Fremdkörper
ich das gelesen habe. Ich finde das ganz schrecklich.« – »Ja. So etwas macht ganz schön Angst. Das kannst du glauben.« Ihre Anteilnahme rührt mich – heute seit Langem mal wieder mit Tränchen. »Nicht weinen, die Schminke.« Wattestäbchen fürs wegzutupfende Gefühl. Sie setzt mit dem Rouge Akzente auf meine Wangen: »Ich finde es aber bewundernswert, wie du damit umgehst. So optimistisch. So kraftvoll.« – »Ja? Hm. Komisch. Ich empfinde das gar nicht als besonders. Ich verhalte mich für meine Begriffe normal. Weitermachen. Weil: muss ja weitergehen.« – »Aber du bist so tapfer.« Lippgloss. »Bin ich?« – »Ja, finde ich schon.« – »Warte mal ab: Der Aufschrei kommt noch, wenn auch ich in ein paar Wochen kapiere, dass das doch keine Dezember-Influenza war, gegen die ich mich hier gewehrt habe.«
Sie schmunzelt. Ich freue mich. Und stelle einmal mehr fest: Das Schlimme ist nicht nur für mich schlimm und nicht nur für die, die mich lieb haben. Sondern auch für die, die in mir einfach ihre schlimmsten Befürchtungen lebendig geworden und verkörpert sehen. Umso wichtiger, nicht nur für sich und die Liebsten, sondern auch für solche Menschen stark zu sein. Ein bisschen zumindest. So gut es geht.
Zwei Tage nach meinem beruflichen Intermezzo in Bayern finde ich mich erneut inmitten von Puderquasten, Pinseln und Farbtiegelchen wieder. Allerdings meinen eigenen. Ich tupfe, lackiere, streiche und ziehe Linien, bis die Augen genau die sehnsuchtsvolle Tiefe bekommen, die ich mir vorgestellt habe. Ausdrucksvoll mit einem Hang zum Tragischen. Das passt. So will ich aussehen, wenn ich sonst schon nichts anhabe. Heute ist ein aufregender Tag. Ich lasse mich zum allerersten Mal oben ohne fotografieren. Meine Mitpatientin Bianca macht auch mit. Mit diesem Spezialprojekt haben wir natürlich jemanden betraut, dem ich zu 200 Prozent vertraue. Nicht, dass solche Fotos schneller, als ich Abzüge in der Hand halte, in der Zeitung landen.
Die Bilder wird ein lieber Freund machen, der – wie günstig – im Hauptberuf ein sehr gefragter Fotograf ist. Wir treffen uns in seinem Studio. Ein schickes Kreuzberger Hinterhof-Loft. Das bleibt aber dann auch das einzig möglicherweise Klischeehafte an diesem Nachmittag. Während er das Licht setzt und mit seiner Assistentin das Shooting vorbereitet, malen wir noch ein bisschen nach. Bianca hat nicht ganz meine Übung in Sachen Make-up und Wimperntricks. Also lege ich Hand an. Richtig locker sind wir beide nicht. Ich thematisiere die angespannte Stimmung: »Bist du auch ein bisschen nervös, Bianca?« – »Ja. Aber ich freue mich. Ich glaube, das ist eine gute Idee, diese Lebensphase so im Bild festzuhalten.« Ich stimme ihr zu. »Man kann schlechter aussehen als Conehead.« Gelächter. Und trotzdem macht sich ein fauliges Gefühl im Magen breit. Ich würde dem Fotografen, meinem Freund, fast lieber mein eigentliches »oben ohne«, nämlich den Busen, zeigen als das, um das es uns jetzt geht: den nackten Kojak-Kopf. Irgendwie ist das für mich beinahe noch intimer als jede herkömmliche Intimzone. Denn meine Haare waren nicht nur Schmuck, sondern auch Schutz. Vor Kälte. Und Blicken. Vor dem, was sich unter der Schädeldecke und allem anderen Äußerlichen versteckt. Mein Innerstes. Demzufolge zögere ich etwas, als es losgehen soll.
Wir starten mit mir und meinem Zweithaar. Die Fotos sind schnell im Kasten. Oliver bittet mich dann, die Perücke abzunehmen. Auweia! Er hat mich so doch auch noch nie gesehen. Wenigstens irgendeine glitzernde oder bunte Tuchkonstruktion hatte ich immer auf dem Kopf, wann immer wir uns in jüngster Zeit getroffen haben. Hilft ja nichts: blank ziehen. Zäh und zögerlich, für mein Empfinden entschuldigend langsam, nehme ich mir mein künstliches Haar vom Haupt. Kaum liegt die geknüpfte Haube in der Ecke, fordert Oliver mich auf, meine Augen zu schließen – und fotografiert drauflos. Es klickt. Und klickt. Ich zucke. Und zucke wieder. In mir drin. Es klickt erneut. Ich zucke. Klick. Klick. Klick. Einmal zucken. Klick. Klick. Keinmal mehr gezuckt. Es fühlt sich gut an, nicht zu sehen, dass da jemand ist, der mich sieht. Sondern es nur zu hören. Ich muss lachen. Klick. Stopp! Mach mal Pause. Ich muss mich sammeln. Klick. Drehe mich von dem in diesem Moment erbarmungslosen Auge der Kamera weg. Klick. Blicke mal fröhlich, mal nachdenklich unter mich. Klick. Manchmal muss ich kichern. Klick. Die eigene Unsicherheit gluckst sich ihren Weg
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