Fremdkörper
durch die Kehle frei. Klick. Klick. Fremd- und Selbstwahrnehmung befinden sich im Einklang: Nackig, verletzlich ... ich. Klick.
35.
Shit happens (Woche 15)
Zick. – Zick. – Zickzickzick. Boah! Hab ich schlechte Laune. Heute läuft nichts so, wie ich das gerne hätte. Ein echter Mensch-Menno-Mist-Tag. Genau eine Woche nach meiner ersten Cyclophosphamid-Infusion musste ich heute früh, wie immer, zur Blutkontrolle. Dabei ist in den vergangenen Wochen nichts Nennenswertes aufgefallen. Weswegen ich das Thema für vernachlässigungswürdig hielt. Bis heute. Heute bin ich down. Weil meine Werte es sind. Die der Leukozyten. Das waren sie bisher noch nie. Wo ist die Gesundheitspolizei, wenn man sie braucht? In die Flucht geschlagen. Also: Die weißen Blutkörperchen sind viel zu niedrig. Ich erzählte ja bereits: Das letzte Zeug meint es nicht besonders gut mit mir. Das merkt jetzt wohl auch mein Körper. Die Leukos in Unterzahl, das macht mich krankheitsanfälliger, müde und schwächer als sonst. Und zu einem Fall für Neupogen. Neupogen ist eines der vielen Wundermittelchen, die versuchen, wieder das zu reparieren, was die Chemotherapie gerade zerstört hat, obwohl sie es natürlich besser nicht hätte zerstören sollen.
Neupogen wird in Spritzenform verabreicht. Die Dinger und ihre Nadeln sind so dünn und scharf, dass ich sie mir unkompliziert selbst geben kann. Dennoch gleicht das Prozedere am Anfang eher einem Harakiri-Kommando: Schwung holen und rein mit dem Säbel in den Leib. So sehr ramme ich mir die Kanülen in die zusammengekniffene Bauchrolle. Hat da wohl jemand ein wenig Angst vor dem Pieks? Ja. Hat da. Später werde ich cooler und kriege das mit den Spritzen auch ohne erhöhte Schweißproduktion hin. Zurück zu heute. Denn: Heute bin ich formschön gefrustet, weil dieser dämliche Wert der weißen Blutkörperchen wie eine erste Niederlage in meinem Kampf über 17 Runden, respektive 17 Wochen, wiegt. Als ob die Miesepetrigkeit allein nicht schon genug wäre, fängt mein Kopf, so wie es auf dem Beipackzettel steht, an zu hämmern, als wollte da jemand dringend raus. Danke, Neupogen. Der ganze Körper juckt und ich weiß nicht, wo ich die sechs zusätzlichen Arme zum Kratzen herbekommen soll. Während ich mich mit dem Wegribbeln meiner Epidermis beschäftige, stelle ich zu allem Überfluss fest, dass meine Haut pergamentdünn und dementsprechend faltig geworden ist. Ich sehe aus wie gefühlte 87. Nur bin ich leider nicht ganz so weise.
Außerdem ist der ganze Körper mittlerweile gesprenkelt. Sommersprossen überall. Na, toll. Getupft, gezupft und gerupft. Ich hatte schon bessere Tage. Und das, wo ich doch noch Besuch bekomme. Ich überlege kurz, ob ich Bianca absagen soll, damit sie mich nicht so desperat erlebt. Entscheide mich aber um, weil ich mich erinnere, dass wir uns gegenseitig bisher immer sehr guttaten. Vielleicht hilft mir ja ein bisschen Heulen und Zähneklappern bei ihr auf einen grüneren Zweig. Kurze Zeit später klingelt es an der Tür, und als ich öffne, strahlt mir eine hervorragend gelaunte Leidensgenossin entgegen. Allerdings von Leid augenblicklich keine Spur. Sie hat eine Riesentüte Gumminaschzeug mitgebracht – das Stimmungsbarometer steigt – und sensationelle Neuigkeiten: »Schau – mal.« Sie lupft ihr Kopftuch. »Nein!«, entfährt es mir überrascht. »Doch. Nur ein halber Zentimeter, aber deutlich erkennbar, oder?« Ich streiche ihr über den Kopf. Um zu glauben, was ich sehe. Tatsächlich fühle ich einen babyweichen Flaum auf ihrem Kopf. Sie kommen zurück. Sie kommen wirklich zurück. Kreische ich. Aber nur in meinem Kopf. In düsteren Momenten hatte ich nämlich selbst das angezweifelt. Ich freue mich sehr. Und jammere ihr nur in vertretbarer Kürze etwas vor von ihrem Vorsprung und meiner Ungeduld. Dann drückt sie, der kleine Fläumling, hihi, mir grinsend eine Karte in die Hand. »Hier. Damit ein für alle Mal klar ist, dass wir nur einmal durch diese Scheiße müssen.« Und das steht drauf:
Religious Truths
Taoism: Shit happens.
Buddhism: If shit happens, it isn’t really shit.
Hinduism: This shit has happened before.
Islam: If shit happens, it is the will of Allah.
Catholicism: Shit happens, because you deserve it.
Protestantism: Let shit happen to somebody else.
Judaism: Why does shit always happen to us?
Sie hat handschriftlich angefügt:
Flaumism: If shit has happened, it won’t happen again.
Mit Süßigkeiten und Tee verfliegt der Nachmittag
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