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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Pielhau
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in angenehmer Geschwindigkeit. Wir essen das bunte, ungesunde Zeug, bis mir leicht übel wird. Gleichzeitig verziehen sich die Gewitterwolken über dem Gemüt. Bianca berichtet, dass sie sich schon seit Wochen mit Neupogen fit spritzen muss. Und auch bei ihr bimmelt der Schädel regelmäßig wie eine katholische Kirche zur Messe. Wie schön. Also, wie doof. Aber: wie schön. Ich bin – natürlich – mal wieder nicht allein. Eine neue Rechenregel für die Ausdauerkraft: Schmerz lässt sich optimal halbieren, wenn man ihn teilt.
    Abends kurz vorm Schlafengehen stehe ich im Bad und fühle mich endlich wieder auf der sonnigen Seite des Lebens angekommen. Ich schrubbe mir die Zähne mit halb geschlossenen Augen. Die Müdigkeit ist in den vergangenen Tagen gravierender geworden. Abends um 22 Uhr geht es mir so, als hätte ich eine ganze Nacht zum Tag gemacht. Bleiern, bettschwer, benebelt. Während ich fast schon im Stehen einschlafe, bemerke ich zunächst nicht, dass auch Thom für die Abend-toilette zu mir geschlichen ist.
    Dementsprechend schlucke ich einen schönen Schwall Zahnpasta und mir explodiert fast das Herz vor Schreck, als er ausruft: »Miiiri!« Die Augen weit aufgerissen, antworte ich – so gut das mit Schaum vorm und im Mund eben geht – beinahe hysterisch: »Waff denn?« – »Guck mal!« Er zeigt auf meinen vorderen Kopf: »Da. Und da. Und da. Überall. Die Härchen kommen wieder.« Ich schlucke. Schon wieder Zahnpasta. Egal. Hektisch halte ich mir den Vegrößerungsspiegel vors Gesicht. Mein Herz klopft von innen mit Sicherheit hörbar an meine Brustwand. Mir wird heiß in den Wangen. Denn ... wirklich. So fein, wie die kaum wahrnehmbare Behaarung im Gesicht, knappe 2 Millimeter lang, entdecke ich Härchen auf meinem Kopf. Ich spucke die Pfefferminz-Menthol-Masse endlich ins Waschbecken und spüle den Mund sauber. Dann gucke ich noch mal. Unglaublich, aber wahr. Die eben entdeckten Fussel, sie sind immer noch da. Vorsichtig berühre ich sie. Diese zerbrechlichen Wesen. Diese verheißungsvollen Vorboten der Normalität. Die Haare kommen zurück. Ich kann es nicht fassen. »Sie kommen zurück, Thom.« – »Ja ...« Er schluckt sichtbar. »Sie kommen zurück.« Da kullert etwas aus seinen Augen. Und da kullert auch etwas aus meinen Augen. Als er mich und meine Glückstränen an sich drückt, flüstere ich: »Das wars mit meiner Karriere als Discokugel.« Er lacht. »Thom. Ich hab Haare.« Er lacht wieder. Und widerspricht nicht. Obwohl Haare in Anbetracht des filigranen Flaums natürlich maßlos übertrieben ist.
    Beim Einschlafen trage ich ein großes, grenzdebiles Grinsen des Glücks im Gesicht. Und da fällt mir noch eine schöne Regel ein. Eine, die gegen die Gesetze der Grundrechenarten geht: Freude verdoppelt sich nämlich, wenn man sie teilt.
    Drei Tage später steht die zweite Traumhochzeit des Jahres an: Finchen und Raul bekennen sich vor Gott, weltlichen Zeugen und einem sehr lustigen Pfarrer zueinander. Die Zeremonie ist so unterhaltsam, dass die Gästeschar etwa alle 30 Sekunden etwas zu lachen hat. Herrlich. Schallendes Gelächter und ein Widerhall, der dem Kirchenschiff als Resonanzkörper alle Ehre macht. Gefeiert wird auch hier auf einem Schloss. Dieses Mal eines mit Türmchen und Zinnen, mit Marmor und viel goldenem Schnörkel. Hier könnte Dornröschen ein paar Jahre lang sehr gut geschlafen haben. Die Festung steht an einem Hang. Mit Blick auf die Elbe. Ich halte trotz großer Müdigkeit durch. Tanzend und unterhaltend und singend. Bis 3 Uhr 17 morgens. Ha! Was kann ich feiern. Immer noch. Wie eine ganz und gar Gesunde. Aber – ganz ehrlich – kein Wunder: Ich hab ja auch Haare.

36. 
Ratschläge(r) (Woche 16)
    Ich habe Haare. Und es werden jeden Tag mehr. Und sie werden länger. Bilde ich mir zumindest ein. Meine Recherche hat ergeben, dass das trotz der Chemotherapie, die ich bekomme, ganz normal ist. Die Wirkstoffkombination Cyclophosphamid hat nichts gegen Haarwachstum. Das heißt: Die fallen auch wirklich nicht mehr wieder aus, wie anfangs von mir befürchtet. Man gestatte mir an dieser Stelle noch einmal ein: Juch-huuu! Endlich wieder was auf dem Kopf. Puh. Jetzt geht es aufwärts. Das Schlimmste ist geschafft. Die Normalität, so weit sie auch immer noch sein mag, rückt in sichtbare und erreichbare Nähe. Dieses Gefühl macht schwerelos.
    Wäre da nicht die blöde Erdanziehung. Und was einen sonst noch knallhart auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Wie stark der

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