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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Pielhau
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Magnetismus Richtung Untergrund doch sein kann, erfahre ich an meinem in dieser Woche fälligen Infusionstag in der Ambulanz. Der vorletzte, wie ich von meiner Liste der abgeleisteten Zyklen ablesen kann. Deswegen bin ich einigermaßen beschwingt hereinspaziert in die altbekannte, gute Stube. Doch dann der herbe Dämpfer: Meine Blutwerte sind miserabel. Mit dem DIN-A4-Blatt, auf dem die Messdaten meiner obligatorischen Blutprobe im Detail vermerkt sind, stapfe ich zur Ärztin. »Aber ich habe doch Neupogen gespritzt?« Dr. Nane Christiansen muss mir die Verzweiflung ansehen. »Wie viele Tage denn?« – »Na, an zweien. Reicht doch eigentlich, oder?« – »Drei wären besser gewesen.« Ich sacke ein bisschen in mich zusammen. »Aber können wir die Infusion nicht trotzdem geben? Ich halte das aus.« Oh je, ich bettele hier ja gerade um die Giftspritze. »Nein«, sagt sie mit einer Bestimmtheit, die keinen weiteren Widerspruch zulässt, »das wäre viel zu gefährlich für Ihre Gesundheit.«
    Die Enttäuschung darüber, hier jetzt wider Erwarten gerade wieder weggeschickt zu werden, steht mir in Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben. Eigentlich ist es nur ein kleiner, gar nicht so bedeutender Rückschlag. Im Augenblick fühlt es sich allerdings an, als müsste ich so kurz vor dem Ziel zurück auf »Los«, um noch mal fast von vorne anzufangen. Und so beugt sie sich zu mir und versucht sich in Ermutigung: »Sie spritzen sich heute noch einmal Neulasta. Das ist noch höher dosiert als das Neupogen. Und dann können wir in zwei Tagen vielleicht loslegen.« Okay. Das ist eine gute Nachricht. Unter all den schlechten. Ich bekomme meine vorletzte Ladung C-Zeug noch in dieser Woche. Damit kann ich leben. Dass sie »vielleicht« gesagt hat und nicht »sicher«, wird von meinem Optimismus-Department geflissentlich überhört. Zerknirscht, aber nicht zerstört, verlasse ich das vertraute Gebäude der Gesundmachung.
    Wobei ich eigentlich sagen müsste: der Gesundbleibung. »Gesund« im grundsätzlichen Sinne – frei von Krankheiten – bin ich ja seit Längerem. Zu Hause angelangt, überlege ich, was ich anstelle mit der unerwartet frei gewordenen Zeit. Immerhin war der Tag bisher geblockt für die Betankung und das, worauf ich mich leider verlassen kann: das Schwachsein danach. Die verderbliche Langeweile treibt mich zu meinem e-mail-Account. Dem öffentlichen. Der, wo nicht die Mails der Freunde oder der Familie landen. Sondern die derer, die sich in irgendeiner offiziellen Form melden möchten. Ich habe schon sehr lange nicht mehr nachgeschaut, wer hier Nachrichten hinterlassen hat. Denn öffentlich-offiziell mag ich seit geraumer Zeit einfach nicht mehr sein. Ich klicke den Posteingang an. Hat sich ganz schön was angesammelt an E-Mails. Ich sortiere den Elektroschrott von Lesenswertem und lande am Ende bei etwas über 70 e-mails, die ich mir zumindest im Schnellaufnahmeverfahren zu Gemüte führen will. Was ich da lese, macht nachdenklich. Und eine hässliche Längsfalte zwischen den Augenbrauen.
    »Sehr geehrte Frau Pielhau, wir haben von Ihrem Schicksal aus der Presse erfahren. Wir wünschen Ihnen das Allerbeste. Bitte unterstützen Sie Ihre Therapie mit unserem Präparat VitaFull (Name geändert). Nur mit diesem Mittel, dessen Substanzen in wissenschaftlichen Studien in ihrer das Immunsystem stützenden und damit krebsverhindernden Wirkung bestätigt wurden, werden Sie auch dauerhaft gesund bleiben. Sie erhalten von uns eine Gratispackung für vier Wochen. Und danach können Sie das 3-Monats-Paket für den Vorzugspreis von 388,80 Euro erwerben. Wenn Sie sich von der Wirksamkeit unseres Produktes überzeugen wollen, besuchen Sie unsere Homepage unter »http://www.vitafull.org« (geändert) und sehen sich die Rezensionen der zufriedenen Kunden an. Bitte teilen Sie uns Ihre Lieferadresse mit, wir werden Sie schnellstmöglich mit den gewünschten Produkten und Informationsmaterial versorgen.«
    Ich klicke die Seite an und surfe mich durch die Kommentare. Ausschließlich begeisterte Kunden. Wobei ich mich schon beim Anschreiben über die Formulierung »Kunden« wundere. Richtet sich das Angebot nicht ausdrücklich an kranke Menschen? Oder welche, die es waren? Also (Ex-)Patienten? Werden diese hilfsbedürftigen Leute, in ihrer Ohnmacht, das eigene Schicksal zu bestimmen oder zu verändern, etwa nur insofern ernst genommen, als dass sie eine potenziell zahlende Gruppe von Konsumenten fragwürdiger Produkte darstellen? Die

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