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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Pielhau
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Nährboden ist meine Kopfhaut. Die Haare wachsen. Spärlich. Ja. Und langsam. Ja. Leider. Natürlich viel zu langsam. Aber: Sie wachsen. Meine Ungeduld ist schier unerträglich und auch ein bisschen unerklärlich. Denn jetzt habe ich über drei Monate Zeit gehabt, mich an ein Dasein als Discokugel ohne Disco zu gewöhnen, und plötzlich ist jeder Morgen, an dem ich nicht urplötzlich mit einer Wolfgang-Petry-Matte aufwache, ein schrecklicher Tag. Ich quäle mich selbst mit Fotos aus vergangenen Tagen: Wallemähne, Wollekopf. Das habe ich die ganze Zeit nicht gemacht. Jetzt stehe ich im Bad und stampfe mit einem Will-aber-Gesicht auf. Warum jetzt? Vermutlich, weil das ferne Ziel auf einmal so nah scheint.
    Dabei muss ich bis zu einer vorzeigbaren Frisur noch mindestens zwei Monate warten. Wenn nicht drei. Da nützt es auch herzlich wenig, dass mein Liebster mir pausenlos versichert, wie »süß« das aussieht. »Du kannst das tragen.« Dass Freundinnen mich immer wieder auf den zu erwartenden, natürlichen Lauf der Dinge (»Die kommen doch alle in alter Pracht wieder.«) hinweisen. Ich will Haare. Jetzt. Jetztjetztjetzt. Daher mache ich dieser Tage all die unsinnigen Dinge, die man so macht, wenn einen die Ungeduld treibt. Ich besorge mir die unglaublich überteuerten Haut- und Haar-Pillen aus der Apotheke und auch das ein oder andere Produkt, das mir im kommerziellen Fernsehen wilde Versprechungen macht. Inmitten meiner Tinkturen, haarwuchsfördernden Shampoos und frei erhältlichen Medikamente überschlage ich kurz, wie weit ich mich in den Ruin gekauft habe. Das schlechte Gewissen kann mithilfe einfacher Grundlagen-Mathematik schnell beruhigt werden. Was habe ich nicht alles nicht ausgegeben, in den vergangenen Monaten. Das Geld für mindestens zwei Friseurbesuche, die mit 100 Euro zu Buche schlagen. Sind zwar nur Spitzen, die bisher regelmäßig geschnitten werden wollten, aber dafür werden selbstverständlich Spitzenpreise aufgerufen. Etwa dreimal die Kombi: Shampoo, Spülung, Kur, mit jeweils 10 Euro. Ein neuer Fön – mein alter macht Geräusche, als wenn er mir jede Sekunde in der Hand explodieren wollen würde, und das möchte ich nicht – mit Glück bei Tchibo für 20, sonst 40 Euro. Haaraccessoires, pro Monat mindestens 30 Euro. Vielleicht noch eine Tönung, oder besser zwei. Noch mal 15 Euro. Wimpern und Augenbrauen färben auch so viel. Die Rasierklingen, der Schaum und das Waxing für das Entfernen der ungeliebten Behaarung macht bei 15 Wochen auch noch einmal 100 Euro. Da kommt unterm Strich ganz schön was zusammen: 330 Euro! Gespart. Einfach so. Ha!
    Ich beschließe, das einzig richtige zu tun, was eine Frau in dieser Situation tun kann. Shoppen! Sehr gut gelaunt mittlerweile, übrigens. Auf der Straße lächle ich jeden an, der mir entgegenkommt. Auch wenn kaum einer, ehrlich gesagt keiner, den Asphaltflirt erwidert. Das bin ich ja gewohnt. Ist ein bisschen demotivierend, je nach Stimmungslage, aber manchmal auch gar nicht schlecht. Als Frau ohne Haare, ohne Wimpern und Brauen, ist man beziehungsweise frau keine Frau. Kein wahrzunehmendes Wesen. Kein Mann guckt länger als aus Versehen. Frauen, wenn, dann nur sehr mitleidig, ängstlich oder irritiert. Und meistens, wenn sie nicht die Faszination des Grauens packt, schnell wieder weg. Wer sollte es all diesen Menschen verdenken? Ich nicht. Ich wäre vor einigen Monaten auch so eine mitleidig-ängstlich irritierte Wegguckerin gewesen. Außerdem hat das Durchsichtigsein auch etwas Gutes: Selten bin ich nämlich derart unbehelligt durchs Viertel gezogen. Auch gut.
    Ich schaffe es zu meinem eigenen großen Bedauern nicht, den ganzen eingesparten Betrag zu verprassen. Dennoch kehre ich zufrieden und schwer beladen von meiner Jagd nach Hause zurück.
    Ich habe die Beute noch nicht vollständig in Augenschein genommen, da klingelt das Telefon. Betty ist dran. Betty ist eine Erscheinung. Von Angesicht zu Angesicht. Sehr hübsch, sehr klein, sehr blond, sehr lustig. Aber auch am Telefon macht sie was her als Ausnahmeperson. Betty redet so schnell und manchmal so konfus, als hätte sie ständig einen Revolver im Rücken und der Mann am Abzug würde sie runterzählen. Außerdem hat Betty eigentlich nie Zeit, ist immer im Stress, und das einzig Verlässliche an ihr ist ihre Unzuverlässigkeit. Das weiß ich. Damit habe ich mich arrangiert. Und es stört mich nicht. Denn Betty hat ein Herz so groß wie Berlin. Und sie scheitert im Alltag, wie so viele, an ihrem

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