Fremdkörper
sogenannten Kundenstimmen, die könnten auch von Freunden und Familienangehörigen der Unternehmer stammen. So viel ist klar. Das sind desillusionierende Lerneinheiten, die man nach vielen Jahren Arbeit für das Fernsehen und für Online-Plattformen kostenlos mitbekommt. Sprich: Diese durch und durch positiven Bewertungen haben nur bedingt Aussagekraft.
Eine zarte Pflanze Wut bahnt sich ihren Weg nach oben. Wo, bitte schön, ist also die Grundidee der echten Hilfestellung geblieben? Wo kann ich mir sicher sein, dass mein Wohl und nicht das des Inhabers hinter dieser Marke im Vordergrund steht? Die Antwort ist nicht schwer. »Nirgendwo.« Ich lösche die Nachricht, nachdem ich sie für mich zu Ende gedacht habe. Ich wühle mich durch den weiteren angefallenen Wust. Es wird nicht besser: Krebsdiäten, Zusatzpräparate, Heilsteine, Krebs-Meditation, Hypnose, asiatische Pilztherapie, Beschwörung oder merkwürdige Immunkuren. Kaum eine Methode der aktiven oder passiven Bekämpfung dieser bösartigen Zellkrankheit, die nicht durch eines der beschriebenen Verfahren hochgelobt wird. Wie soll ich da treffsicher Gut von Böse unterscheiden? Wirksam von unwirksam. Wie machen das andere? Was, wenn verzweifelte Patienten oder deren Angehörige in den Angeboten die letzte Rettung sehen und dabei den Kranken und ihren Kontostand ins Verderben treiben?
Ich komme mir benutzt vor. Kaum als Patient geoutet, wird man wohl oder übel zur Testperson für sämtliche Heil oder Unheil verkündenden Therapiemethoden, die die Scharlatane dieser Branche bieten. Das ist ja beinahe eine Art Krebs-Mafia. Eine Liga derer, die hanebüchene Methoden als auch Medikamente als Wundermittel anpreisen, um aus der Klientel Krebs Profit zu schlagen. Zu unmoralisch, um es zu glauben. Und doch. Ich fürchte, diese Szene lebt. Und zwar besser als die meisten ihrer Kunden.
Nachdem auch die letzte e-mail mit vielversprechenden Offerten im Mülleimer für Datendreck gelandet ist, nehme ich mir Zeit für mich und meine lockende Couch. Ich schlage die meiner Meinung nach falschen Ratschläge und ihre Ratschläger in den Wind. Keiner hat den Eignungstest bestanden. Stattdessen versuche ich, mich auf meine persönliche Überlebensstrategie zu besinnen. Und die wird getragen von einigen wenigen, aber für mich zumindest sehr wirksamen Faktoren. Liebe hilft. Amor gegen Tumor. Sozusagen. Liebe in Wort und Streicheleinheit vom Liebsten genauso wie von Mama und Papa, meinen Geschwistern oder den besten Freunden. Essen hilft. Am besten Bio, auch wenn es teuer ist. Gemüse und Obst und literweise Kräutertee. Und Sport hilft. Mir. Macht mich glücklich an unglücklichen Tagen. Und munter an den müden. Und nicht zuletzt hat das Joggen und die damit einhergehende verstärkte Blutkörperchen-Produktion dafür gesorgt, dass ich erst in einer ziemlich späten Therapiephase – nämlich erstmalig heute – nicht Normalwerte bei der Kontrolle hatte.
Das Dauerlaufen hatte darüber hinaus noch einen weiteren, angenehmen Effekt. Hat es mich doch davor bewahrt, mit Erythropoetin mein Rückenmark stimulieren zu müssen und der Blutarmut entgegenzuwirken. (Epo – genau – das Mittel, das angeblich manche Radfahrer illegalerweise nehmen, um noch mehr Sauerstoff transportierende rote Blutkörperchen im Organismus zu haben.) Denn so richtig gesund soll diese Methode auch nicht sein. Und zu guter Letzt: Durch den Sport fühle ich mich leistungsstark und gesund. Und sehe auch so aus. Zumindest den Umständen entsprechend. Immer noch mit einigermaßen akzeptabler Gesichtsfarbe. Und nicht dieses Chemo-grau, das einen bestimmt zusätzlich deprimiert. Einen vierten Faktor für die Gesundbleibung lasse ich noch zu. Den erforsche ich immer mal wieder in dann aber mühevoller Kleinarbeit. Daher kann ich noch nicht benennen, wie er wirkt und wie ich ihn handhabe. Die Psyche. Wie ist die meine gestrickt? Was in ihr begünstigt Gesundheit, was nicht? Wie mache ich mich eben nicht nur physisch, sondern auch psychisch fit für den Rest meines gesunden Lebens? Spannend. Und entspannend zu wissen, dass ich – trotz Fremdbestimmtheit – ganz schön viel selbst in der Hand habe. Auch ohne Zauberzäpfchen im Zehnerpack.
37.
Hair – das Grusical (Woche 17)
Mein Dachgarten sprießt. Die Pflänzchen kämpfen sich mühsam durch die Muttererde. Zwar noch nicht so flächendeckend, wie sie es einst taten. Aber sie drängen raus an die frische Luft. Übersetzt soll das so viel heißen, wie: Der
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